Rabbi Amir, Sie heißen mit Vornamen »Yehoyada« – das ist auch für einen Israeli ungewöhnlich.
Ja, denn dieser hebräische Name ist sehr selten. Er bedeutet »Gott liebte« oder »Gott wusste«.
Muss man mit einem solchen Namen Rabbiner werden?
Da muss ich jetzt ein bisschen ausholen. Meine Familie stammt aus Deutschland, mein Großvater war von 1905 bis 1942 Rabbiner in Duisburg. Er hatte am orthodoxen Rabbinerseminar zu Berlin studiert und sich dagegen entschieden, eine Smicha von einer Institution anzunehmen, an der es keinen Raum für Bibelkritik gab. Seine Smicha als Rabbiner erhielt er vom Beit Din der liberalen Rabbinervereinigung um Leo Baeck. 1942 wurde mein Großvater nach Theresienstadt deportiert und starb dort. Mein Vater studierte an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin und erhielt dort 1939 seine Smicha als Rabbiner. Er konnte Deutschland nach Beginn des Zweiten Weltkriegs verlassen. Und in Eretz Israel war er liberaler Rabbiner in einem Land, in dem es damals so gut wie kein liberales Judentum gab.
Sie sind also in die Fußstapfen Ihres Großvaters und Ihres Vaters getreten.
Es war nicht immer klar, dass ich Rabbiner werden würde. Aber der Gedanke war mir auch nie fremd. Ich bin aufgewachsen mit Fragen der jüdischen Religiosität, genauer gesagt der liberalen jüdischen Religiosität, und dem Bewusstsein, einen eigenen Weg zu gehen und zu wissen, dass es nicht viele Menschen um mich herum gibt, die genauso sind wie ich. In Jerusalem habe ich an einem Beit Midrasch der Masorti-Bewegung studiert, heute heißt es Schechter-Institut, und zwar an der pädagogischen Abteilung. Aber nach vielen Jahren hat mich der Dekan des liberalen Hebrew Union College gefragt, ob ich dort nicht die Rabbinerausbildung von Grund auf neu aufbauen will. Ich habe damit begonnen, bevor ich selbst Rabbiner wurde. Heute gibt es mehr als 120 Reformrabbiner und -rabbinerinnen in Israel. Vor zwei Jahren bin ich in den Ruhestand gegangen, und jetzt bin ich bereit für eine neue und entscheidende Herausforderung.
Sie sind rabbinischer Leiter des neuen Regina Jonas Seminars unter dem Dach der Nathan Peter Levinson Stiftung, die vom Zentralrat der Juden gegründet wurde. War dieses Jobangebot für Sie eine Überraschung?
Nicht ganz. Ich habe zwar formell nie zum Abraham Geiger Kolleg gehört …
… dem liberalen Rabbinerseminar, das Walter Homolka viele Jahre geleitet hat und das inzwischen von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin übernommen wurde …
… aber ich bin mit dem liberalen Judentum in Deutschland vertraut, 1991 war ich zum ersten Mal in Berlin. Außerdem habe ich schon an der School of Jewish Theology in Potsdam als Gastprofessor unterrichtet. Und ich denke, dass ich Walter Homolka die Wahrheit, jedenfalls meine eigene Wahrheit, sagen konnte, ohne sein Ohr zu verlieren oder ein Feind zu werden.
Homolka wird unter anderem Machtmissbrauch vorgeworfen – den er bestreitet. Er hat die Leitung des Geiger-Kollegs inzwischen abgegeben. Befürchtet wird allerdings von seinen Kritikern, dass er hinter den Kulissen weiterhin aktiv ist.
Ich habe Homolka schon im Jahr 2020 in einem privaten Gespräch gesagt: Walter, du hast Großes für die liberale Rabbinerausbildung geleistet. Du hast aber auch negative Eigenschaften, und aufgrund der weitergehenden Entwicklung am Abraham Geiger Kolleg, das du mit geschaffen hast, überschatten sie deine Leistungen jetzt bei Weitem. Zieh dich vom Geiger-Kolleg zurück, werde Ehrenpräsident oder geh in die Politik, um Lobbyarbeit zu machen. Die Ausbildung – auch von Erwachsenen – ist eine große Verantwortung. Entweder man ist den Studentinnen und Studenten zutiefst verpflichtet und liebt seine Arbeit, oder man lässt es. Nachdem massive Vorwürfe öffentlich geworden waren, habe ich die World Union for Progressive Judaism und die European Union for Progressive Judaism überzeugt, dass sie sich zu dem Fall positionieren müssen, und habe sie beraten. In dieser Funktion war ich mehrmals in Berlin. Und ich habe ihnen auch gesagt, dass meiner Meinung nach die Spaltung innerhalb des Reformjudentums in Deutschland zwischen der Union progressiver Juden (UpJ) und dem neuen Verband für liberal-jüdische Gemeinden und Gruppierungen, dem Jüdischen Liberal-Egalitären Verband (JLEV) unter dem Dach des Zentralrats der Juden, unvermeidbar ist. Ich hoffe, dass beide Gruppen als zwei Zweige der progressiven jüdischen Gegenwart in Deutschland willkommen sind.
Einer der Kernstreitpunkte bei den Liberalen ist, ob man mit dem Abraham Geiger Kolleg weitermachen will oder auf das neue liberale Rabbinerseminar setzt.
Genau. Und für Letzteres war der Name »Regina Jonas Seminar« schon ein jahrelanger Code. Regina Jonas war die erste und einzige Rabbinerin, die als Studentin der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin (im Jahr 1935, Anmerkung d. Red.) ordiniert wurde. Als Mann habe ich das Rabbinatsstudium von Frauen in Israel von Anfang an unterstützt. Und erst kürzlich habe ich erfahren, dass mein Großvater, Rabbiner Manass Neumark, zu den engsten Kreisen von Jonasʼ Unterstützern gehörte.
Sie haben auch schon einen Lehrplan für das Regina Jonas Seminar parat.
Vorerst nur für das Wintersemester 2024/25, aber ich habe ihn nicht allein entworfen, sondern zusammen mit den Rabbinerinnen Anita Kántor und Ulrike Offenberg. Ein umfassender Lehrplan ist noch im Entstehen.
Sie bezeichnen sich selbst als Feminist.
Ja, ich bin Feminist. Ich glaube nicht, dass nur Frauen Feministen sein können oder dass der Feminismus nur Frauen angeht. Er ist wichtig für Frauen, für Männer, für Heterosexuelle, für Queers, für alle, die sich dazwischen verorten. Und jede Leitung, die nicht nur aus heterosexuellen Männern besteht, ist gerechter, gesünder und interessanter.
Gerade ist in Potsdam der neue Kooperationsvertrag zwischen der Nathan Peter Levinson Stiftung und der Universität Potsdam über die Ausbildung liberaler und konservativer Rabbiner und Kantoren unterzeichnet worden. 2021 wurde dort das schöne rosafarbene Gebäude als »Europäisches Zentrum für Jüdische Gelehrsamkeit« eingeweiht. In dem Haus residiert weiterhin das Abraham Geiger Kolleg, und Homolka unterrichtet als Professor an der Uni. Wie soll es vor Ort weitergehen?
Ich habe das Wort von der Post-Homolka-Ära geprägt, aber ich sehe Walter Homolka, wie gesagt, keineswegs als meinen persönlichen Feind an. Solange die Rabbinerausbildung und die Entwicklung des progressiven Judentums nicht länger von ihm beeinflusst werden, weder direkt noch indirekt, wünsche ich ihm viel Glück. Falls er aber versucht, in diesen Bereichen weiter Einfluss auszuüben, muss man das unbedingt stoppen. Den Menschen, die sich verletzt fühlen oder als Opfer begreifen, muss man die Möglichkeit geben, offen darüber zu sprechen, und dafür ein Forum schaffen. Was das Gebäude angeht: Möglicherweise wird der Mietvertrag des Geiger-Kollegs mit der Universität Potsdam derzeit nicht beendet werden. Aber dann wird man uns andere Räumlichkeiten zur Verfügung stellen.
Der rabbinische Leiter des Geiger-Kollegs, Rabbiner Andreas Nachama, hat einen »runden Tisch« gefordert. Sind Sie mit ihm in Kontakt?
Ich würde mich sehr freuen, mit Andreas Nachama zu sprechen. Ich habe ihn in den vergangenen Wochen mehrfach kontaktiert, aber bisher keine Antwort bekommen. Prinzipiell bauen wir mit der Nathan Peter Levinson Stiftung eine neue Institution auf. Wir verpflichten uns natürlich, alle Studierenden des liberalen Geiger-Kollegs und des konservativen Zacharias Frankel College unter dem neuen Dach aufzunehmen, wenn sie es wünschen, aber wir haben keinerlei Verpflichtungen gegenüber einem Institut, mit dem wir keine Verbindungen unterhalten.
Die Smichot und Investituren von Rabbinern und Kantoren des Geiger-Kollegs und des Zacharias Frankel College werden also anerkannt?
Ja, die vom Geiger-Kolleg ordinierten Rabbinerinnen und Rabbiner und die Kantorinnen und Kantoren sehen wir als wichtige Bestandteile der Zukunft des liberalen Judentums an. Die meiner Überzeugung nach fragwürdigen Aspekte des Beit Midrasch haben nichts mit deren Status oder Legitimität zu tun. Wir sind den Studierenden und ihrem Wohlergehen verpflichtet. Was die derzeitigen Studenten am Geiger-Kolleg betrifft, nehmen wir jeden, der lieber bei uns lernen will, gern auf und müssen dafür individuell angepasste Lehrpläne entwickeln. Auch die Stipendien für Studierende an der School of Jewish Theology sollen davon nicht beeinträchtigt werden. Ich kann diejenigen Studenten, die hin und her schwanken, gut verstehen. Wir werden geduldig sein.
In einigen deutschen Medien wird der Zentralrat als Institution dargestellt, der die Orthodoxie gegenüber dem liberalen Judentum angeblich bis heute bevorzugt. Hören auch Sie öfters solche Vorwürfe?
Uns ist wichtig, dass das deutsche Judentum von Neuem das breite Spektrum von orthodoxen und nichtorthodoxen Möglichkeiten entwickeln kann. Es gibt keinen Zweifel daran, dass die Geschichte der Juden in Deutschland und des Zentralrats in den ersten beiden Generationen nach der Schoa vom orthodoxen Judentum geprägt wurde. Ich respektiere diejenigen unter den Liberalen, die sich fragen, ob der Zentralrat tatsächlich seine Haltung geändert hat. Ich habe daran überhaupt keinen Zweifel: Der Wandel ist echt. Und gemeinsam werden wir eine neue pluralistische Wirklichkeit schaffen, die niemand mehr verändern können wird und die nicht umgekehrt wird.
Stellen Sie sich vor: Eine kleine Gemeinde hat nur Geld für eine Rabbinerstelle. Der Gemeindevorstand sagt: Nehmen wir lieber einen Orthodoxen – den akzeptieren alle. Warum sollte die Gemeinde dann einen Reformrabbiner einstellen?
In manchen Gemeinden gibt es die von Ihnen angesprochene Dynamik, in anderen Gemeinden gibt es längst mehr als einen Minjan und verschiedene Strömungen. Es stimmt auch nicht, dass orthodoxe Rabbiner von allen akzeptiert werden. Unter den etwa 150.000 Juden in Deutschland gibt es viele, die keine Gemeindemitglieder sind. Wir brauchen also Rabbinerinnen und Rabbiner, die auch säkulare Juden ansprechen, und solche, die ihre jüdische Identität selten ausleben, höchstens an den Feiertagen. Und hier haben liberale Rabbiner einfach einen Vorteil.
Der 7. Oktober hat die jüdische Welt in eine existenzielle Krise gestürzt. Welche Antworten findet das liberale Judentum?
Wir alle sind erschüttert, nicht nur vom 7. Oktober, sondern auch vom wachsenden Antisemitismus – und fragen uns nach unserem Platz als Juden in der Welt. Menschen, die jetzt nach einer jüdischen Verbindung suchen, muss man unterschiedliche Wege anbieten – nicht nur Gebete, sondern vielleicht auch monatliche »säkulare« Gespräche über das Judentum und mehr. Verschiedene Antworten sind nötig, weil die Fragen so unterschiedlich und dynamisch sind. Aber ich möchte auch noch etwas über Deutschland sagen. Wir alle sind erschrocken über den Aufschwung rechtsextremer Parteien, aber den gibt es leider überall, auch in Israel, und das ist sehr schmerzhaft, denn dort sitzen sie in der Regierung. Für mich ist es im Übrigen dasselbe, ob jemand sich den Juden überlegen fühlt oder »jüdische Überlegenheit« propagiert. Was mich in Deutschland beeindruckt, ist der Einsatz der Regierung und der Gesellschaft gegen den Rechtsruck. Eine liberale demokratische Kultur aufzubauen, ist viel Arbeit, jeden Tag. Und unsere Aufgabe als Juden ist der Einsatz für eine demokratische jüdische Kultur. Denn damit beteiligen wir uns an der gesellschaftlichen Aufgabe, die sich allen Menschen stellt.
Mit dem rabbinischen Leiter des Regina Jonas Seminars sprach Ayala Goldmann.