Herr Oberrabbiner Goldschmidt, wie fällt Ihre Bilanz nach der 32. Generalversammlung der Konferenz Europäischer Rabbiner (CER) aus?
Wir haben mehrere Beschlüsse gefasst. Der wichtigste ist ein Ethik-Kodex für Rabbiner. Eine Kommission hat sehr ausführlich daran gearbeitet.
Darin geht es um den Umgang mit Missbrauch, Nähe und Distanz sowie Finanzen ...
... ja, es war uns aber auch wichtig, grundsätzlich über möglichen sexuellen Missbrauch, aber auch Machtmissbrauch von Rabbinern gegenüber Gemeindemitgliedern zu sprechen. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, ist hier sehr deutlich, was etwa den Kontakt zum anderen Geschlecht angeht. Deshalb gibt es vielleicht weniger Probleme als in anderen Religionsgemeinschaften. So geben 90 Prozent der orthodoxen Rabbiner einer Frau nicht die Hand. Ein Mann darf nicht mit einer Frau alleine in einem Raum sein. Sie sehen, es gibt in der Halacha weniger Grauzonen, gleichwohl existieren sie, und hier haben wir etwa bei dieser Frage mit einem Ethik-Kodex präventiv eine klare Linie gezogen.
Wie sieht das genau aus?
So kommt zum Beispiel der Rebbetzin, der Ehefrau eines Rabbiners, eine sehr große Bedeutung zu. Gemeinderabbiner sollen verheiratet sein, um Probleme mit Grauzonen zu vermeiden.
In welcher Größenordnung ist sexueller Missbrauch denn ein Problem in orthodoxen jüdischen Gemeinden in Europa? Prävention spielt ja in dem Ethik-Kodex eine wichtige Rolle.
In kleinen Gemeinden und auch in Osteuropa kommt es vor, dass die Familien der Gemeinderabbiner nicht vor Ort sind und woanders leben, zum Beispiel in Israel. Dann kann es möglicherweise Probleme geben. Wir sind uns dessen bewusst und verstecken nichts unter dem Tisch.
Wie ist das Vorgehen, wenn ein Verdacht auf Missbrauch bekannt wird?
Wenn sich jemand mit dem Vorwurf an uns wendet, dass sich ein Rabbiner nicht der Halacha entsprechend verhalten hat und sich herausstellt, dass das stimmt, wird diese Person zur Rechenschaft gezogen. Wir haben in der CER Rabbiner aus 47 Ländern mit unterschiedlichen Organisationsstrukturen. In Frankreich zum Beispiel befasst sich ein Oberrabbinat mit entsprechenden Problemen und kann einen Rabbiner ausschließen. Anderswo können lokale Gemeinden einen solchen Beschluss fassen, und die CER akzeptiert diesen Beschluss nach einer Untersuchung. Der Ethik-Kodex ist bindend für alle Mitglieder der CER.
In Deutschland gibt es Vorwürfe der sexualisierten Belästigung am Abraham-Geiger-Kolleg, das in Potsdam liberale Rabbiner und Kantoren ausbildet. Hängt der neue Ethik-Kodex für die orthodoxen europäischen Rabbiner mit den Vorgängen dort zusammen?
Wir haben lange vor dem Bekanntwerden des Skandals am Abraham-Geiger-Kolleg an dem Kodex gearbeitet. Die Missbrauchsdebatte etwa in der evangelischen oder katholischen Kirche war hier ein Stein des Anstoßes. Wir sind alle Menschen, und es ist wichtig, rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen.
Möchten Sie sich zu den Vorwürfen am Kolleg äußern?
Es tut mir Leid, dass solche Dinge passieren. Es ist ein Problem für uns alle, denn viele Menschen außerhalb der jüdischen Gemeinschaft machen keinen Unterschied zwischen den religiösen Strömungen innerhalb des Judentums, zwischen orthodox oder liberal. Das ist wie in der christlichen Kirche. In einem globalen Dorf sind wir immer mitschuldig.
Dann ist der CER ebenfalls an einer raschen und sorgfältigen Aufklärung der Vorwürfe gelegen, nehme ich an.
Wir hoffen, dass Juden in Deutschland sich bald nicht mehr mit den Problemen am Kolleg befassen müssen.
Lassen Sie uns noch zu einem anderen Thema kommen. In München waren mehrere hundert Rabbiner versammelt, einige von ihnen kamen aus der Ukraine und aus Russland. Wie war das Miteinander?
Es war einer der schönsten Momente und eine große Freude nach zweieinhalb Jahren Einsamkeit wegen der Corona-Pandemie, dass alle Rabbiner zusammensaßen. Fast 300 Rabbiner waren drei Tage zusammen im intensiven Austausch. Die Brüderschaft und die Freundschaft ist von politischen Ereignissen nicht beeinträchtigt worden.
Polens Oberrabbiner Michael Schudrich hat mit Blick auf den Ukrainekrieg in einem Interview der Deutschen Welle von »Vernichtung« gesprochen. Und auch, dass es »gewiss keine Meinungsverschiedenheit« in dieser Bewertung zwischen den Rabbiner gebe. Ist das so?
Oberrabbiner Schudrich ist unser Sprecher für die Flüchtlingshilfe und erlebt täglich, welchen traumatischen Erlebnissen viele der Tausenden von jüdischen Flüchtlingen ausgesetzt waren und sind. Ich glaube, die Herausforderung für Rabbiner ist aktuell der Dienst an den Flüchtlingen, die leiden - weniger das Wort. Taten sind ebenso wichtig wie das Wort.
Sie selbst sind Oberrabbiner von Moskau. Wie sieht es in russischen Gemeinden aus angesichts des Krieges, der ja von Russland ausging?
Die Stimmung in russischen jüdischen Gemeinden ist bedrückend. Viele Juden sind ausgewandert, ein Teil der Menschen sitzt auf gepackten Koffern. Der Krieg ist für uns alle eine Katastrophe.
Sehr viele Gemeinden in Europa helfen jetzt Flüchtlingen aus der Ukraine.
Zum Beispiel hat die jüdische Gemeinde in Wien mit 8500 Mitgliedern rund 1300 Flüchtlinge aufgenommen, ohne Hilfe der österreichischen Regierung. Sie besorgen Unterkünfte, kümmern sich um Gottesdienste und den Schulbesuch von Kindern. Es ist wunderschön zu sehen, wie jüdische Gemeinden Flüchtlingen helfen.
Arbeiten die Gemeinden auf dem Gebiet auch mit anderen Religionsgemeinschaften zusammen?
Wir sind unter anderem in Kontakt mit Bischof Thomas Schirrmacher von der Weltweiten Evangelischen Allianz oder mit der Caritas von der katholischen Kirche. Mit Primas-Erzbischof Peter Erdö aus Ungarn haben wir jüngst über ein Programm für alle Flüchtlinge, egal welcher Religion, diskutiert. Die christlichen Kirchen machen ebenfalls sehr viel für Flüchtlinge. Es gibt Stimmen, die sagen, die Zeit der Religionen sei vorbei. Heutzutage sehen wir in der Krise, wie wichtig die Religionen in Wirklichkeit sind.