Extremismus

Wir müssen reden

»Mahnwache für Menschenrechte – gegen religiösen Fanatismus« am 10. Februar vor dem Brandenburger Tor in Berlin Foto: Levi Salomon

Wir leben heutzutage in multireligiösen und multiethnischen Gesellschaften, aber wir wissen nicht immer viel über »die anderen«. Gerade über den Islam ist unser Wissen nach wie vor beschränkt. Muslime werden meist als eine große, homogene Einheit verstanden. Es gibt aber nicht »die« Muslime, so wie es auch nicht »die« Juden gibt. Und es gibt auch nicht nur eine einzige Auslegung, Strömung oder Praxis im Islam, so wie auch das Judentum vielfältig ist.

Als Folge der jüngsten Terroranschläge in Paris und Kopenhagen habe ich viel Negatives über »den« Islam und »die« Muslime gehört, auch innerhalb der jüdischen Gemeinschaft.

Mentalität Es ist aber erst ein paar Jahrzehnte her – vor, während und sogar nach dem Zweiten Weltkrieg –, dass die Schweizer über ostjüdische Emigranten und Flüchtlinge sagten, sie hätten eine völlig andere Mentalität, Kultur und Religion, die angeblich nicht zur Schweiz passten.

Auch Vorurteile, mit denen wir Juden heute konfrontiert sind, erinnern an Argumentationen gegen Muslime – beispielsweise, wir würden die Weltherrschaft anstreben, oder wir seien gewalttätig. Es gibt immer noch Christen, die vom »rachsüchtigen, gewalttätigen« G’tt des »Alten Testaments« sprechen, dem ein liebender G’tt des »Neuen Testaments« entgegenstehe – als ob es G’tt in zwei verschiedenen Ausführungen gäbe.

Doch auch Glaubenstheorien von Juden und Muslimen weisen viele Parallelen auf. Vieles von dem, was in den sechs Glaubensgrundsätzen und den fünf Säulen des Islam steht, ähnelt Grundsätzen des Judentums – oder stammt direkt aus unserer Tradition. Das Ironische ist: Obwohl es keine anderen zwei Religionen gibt, die sich so nahestehen, gibt es wohl auch keine zwei anderen, die heute so weit von einander entfernt sind.

Der Konflikt zwischen Juden und Muslimen scheint schon in Tora und Koran vorgegeben, und natürlich finden wir antijüdische Stellen im Koran. Doch aus Platzgründen möchte ich mich hier auf ein Konzept konzentrieren: den »Heiligen Krieg«. Jeder Krieg in der Antike, und damit auch die Kriege im Tanach, waren letztlich »heilig«, denn es waren immer Kriege der Völker und ihrer Gottheiten gegeneinander.

Im Judentum greift G’tt teils direkt ein, wie bei den Mauern von Jericho (Jehoschua 6) – oder Er lenkt die Schlachten aus dem Hintergrund, wie zum Beispiel bei Barak gegen Chewer (Richter 4) oder im Kampf gegen Amalek (1. Buch Mose 17). G’tt wird als Kriegsherr bezeichnet, als »Herr der Heerscharen« oder auch als »Mann des Krieges«.

Bundeslade
Zum Kampf gegen die Philister lesen wir, dass die Bundeslade mit in die Schlacht genommen wurde. Das heißt, G’tt ist direkt oder indirekt immer mit dabei. Andersherum ist es übrigens auch G’tt, der sich mit unseren Feinden verbündet und das jüdische Staatswesen und den Tempel in Jerusalem zerstören lässt, wenn wir nicht auf Ihn hören und nicht Seinen Geboten folgen.

In der Tora werden wir zum Krieg gegen die Kanaaniter und Amalek aufgefordert (5. Buch Mose 4 und 7). Amalek ist das Symbol für das Böse schlechthin, die Kanaaniter hingegen leben auf unserem Land, und sie haben Religionen, die uns verwirren und auf den falschen Weg bringen könnten. Daher müssen diese Völker und ihre Götzen ausgelöscht werden.

Amalekiter und Kanaanäer gibt es heute zwar nicht mehr, doch auch im Judentum berufen sich einzelne Fanatiker auf das Heilige Buch und vergießen Blut vorgeblich im Namen der Tora – wie Baruch Goldstein, der 1994 in Hebron 29 Palästinenser beim Gebet erschoss. Rabbiner Yitzhak Ginzburg schreibt sogar, Rache und Terrorismus seien in diesem Kontext »wie eine Reinigung«. Die Radikalen argumentieren ferner mit der Heiligkeit des Landes Israel. Es muss verteidigt und von jeder Besatzung »gereinigt« werden. Natürlich darf man es um keinen Preis an Nichtjuden übergeben.

Doch was die reinen Zahlen angeht, haben sich im Lauf der Geschichte nicht annähernd so viele Extremisten auf das Judentum berufen wie auf den Islam, in dessen Namen der »Islamische Staat« (IS), Boko Haram, Hamas und Hisbollah Terror gegen Muslime und Nichtmuslime verüben – und dabei bereits Abertausende von Menschen ermordet haben.

Dschihad Der islamische »Dschihad« wird oft als Heiliger Krieg interpretiert, obwohl aus dem Koran nicht eindeutig hervorgeht, ob es sich um einen universellen Kampf gegen Andersgläubige handelt mit dem Ziel, unter Berufung auf den Propheten Mohammed das islamische Territorium zu verteidigen und zu erweitern, bis der Islam die beherrschende Religion ist, oder ob dieser Kampf nur defensive Ziele verfolgt.

Erstere Interpretation lässt sich leicht aus dem Koran ableiten. So etwa aus der Sure 2,191: »Und tötet sie, wo immer ihr sie trefft, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben. Denn Verführen ist schlimmer als Töten. Kämpft nicht gegen sie bei der heiligen Moschee, bis sie dort gegen euch kämpfen. Wenn sie gegen euch kämpfen, dann tötet sie. So ist die Vergeltung für die Ungläubigen.«

Immer wieder zitiert wird in diesem Zusammenhang auch der folgende Koranvers: »Und wenn die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Götzendiener, wo immer ihr sie findet, und ergreift sie und belagert sie und lauert ihnen aus jedem Hinterhalt auf« (Sure 9,5).

Das Wort »Dschihad« bedeutet eigentlich auf Arabisch »mit allem erdenklichen Bemühen« oder »hart streben« – und nur nachgeordnet »kämpfen«. Es meint also nach moderner Auslegung keineswegs Krieg und militärischen Kampf, für den im Arabischen ein anderes Wort als »Dschihad« benutzt wird: »Qital«. Beide Wörter werden im Koran verwendet.

Gegen Gewalt ruft folgender Koranvers auf: »Und kämpfe in Allahs Sache gegen diejenigen, die zuerst Krieg gegen euch geführt haben, aber begeht nie Aggressionen, denn wahrlich, Allah liebt nicht die Aggressoren« (Sure 2,190).

Zwangskonversion Unter Berufung auf die bereits zitierte Sure 9,5 haben islamische Gelehrte allerdings im Lauf der Geschichte immer wieder angeordnet, dass Heiden und Polytheisten entweder zum Islam konvertieren oder getötet werden müssen.

Doch andere Islam-Gelehrte berufen sich auf Sure 2,256: »Kein Zwang darf in Sachen des Glaubens sein.« Gemeint sei, dass der Islam von einem Konvertiten freiwillig und voller Überzeugung angenommen werden muss. Übertritte durch Zwang seien wertlos. Die Politik des IS widerspricht demnach der islamischen Lehre.

Sowohl die Tora als auch der Koran enthalten viele Quellen zur Heiligkeit des Lebens, zu Pluralismus und Religionsfreiheit. Sowohl im Judentum als auch im Islam wird Gewalt von historischen und zeitgenössischen Interpreten entschieden abgelehnt, und potenziell gewaltverherrlichende Stellen werden so interpretiert, dass sich Gewalttäter nicht darauf berufen können.

Der islamistische Terror ist ein politischer, vor allem machtpolitischer Missbrauch des Dschihad-Konzeptes – und er hat soziale Gründe, keine religiösen.

Aber natürlich gibt es ihn, und für uns Juden ist das ein großes Problem. Denn die Anschläge auf die Schule in Toulouse, das Museum in Brüssel, den koscheren Supermarkt in Paris und die Synagoge in Kopenhagen waren eindeutig gegen Juden gerichtet. Und ganz ohne Zweifel waren es muslimische Täter, die dabei jüdische Kinder und Erwachsene getötet haben.

Täterprofile Ich warne allerdings ausdrücklich davor, daraus abzuleiten, dass alle Muslime solche Anschläge unterstützen. Nur eine kleine Minderheit der fast viereinhalb Millionen Muslime in Deutschland sind gewaltbereite Islamisten. Ihre Täterprofile zeigen jedoch, dass die Angreifer nicht aus gläubigen muslimischen Familien kommen; sie sind nicht religiös oder traditionell aufgewachsen.

Meist haben sie und andere radikale Islamisten einen säkularen Hintergrund, sind schlecht ausgebildet und integriert, haben kaum berufliche Perspektiven – und oft auch schon eine kriminelle Karriere hinter sich.

Solche Leute sind die ideale Zielgruppe für Hassprediger, die ihnen die komplexe Welt in Schwarz-Weiß, Gut-Böse, Richtig-Falsch einteilen und sie einer Gehirnwäsche unterziehen, um sie dann zu radikalisieren.

Wenn wir aber jetzt einzelne Koranstellen anführen, um zu beweisen, dass »der« Islam gewalttätig sei, dann ist das nicht nur analog zu dem, wie Antisemiten die Tora zitieren. Sondern wir gehen dann genauso vor wie Islamisten, die diese Koranverse missbrauchen.

Unser Ziel muss es sein, allen Menschen – egal, ob Muslime oder Angehörige anderer Religionen, die unsere Werte und unseren Humanismus teilen –, die Hand zu reichen und zusammenzustehen gegen jeglichen Extremismus und Fundamentalismus. Denn damit schaden wir den Islamisten am meisten.

Der Autor war bisher Assistenzrabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich und ist ab dem 1. April Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

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