An Rosch Haschana und bei Wahlen werden wir wieder ganz auf uns selbst zurückgeworfen. In beiden Fällen geht es um Lebensfragen: An Rosch Haschana ist unser Verhältnis zum Allmächtigen in den Gebeten zentral, bei der Bundestagswahl an diesem Sonntag geht es um unsere Beziehung zu unseren Mitmenschen, sowohl auf privater als auch auf nationaler Ebene.
Die Tora kennt keine wirkliche Trennung von Kirche und Staat. Unsere weltliche Wahlentscheidung wird von unseren jüdischen Empfindungen beeinflusst. Eine Wahlempfehlung zu geben, halte ich dennoch nicht für sinnvoll, da jeder selbst vernünftig genug ist, um zu wissen, wen und was er oder sie wählt.
Ich möchte nur einige Hinweise geben: Was erwartet G’tt von uns? Er erwartet von uns, dass wir uns jedes Jahr verbessern und neue Wege einschlagen, wenn wir merken, dass das vergangene Jahr nicht ganz gelungen war. Ähnlich ist es bei Wahlen.
Der Monat Elul ist traditionell die Zeit, um bei den Klängen des Schofars, des Widderhorns, zur innerlichen Einkehr zu gelangen. Sofort im Anschluss an diesen Monat feiern wir Rosch Haschana – das Fest, an dem wir uns vornehmen sollen, das Ruder wieder herumzureißen und ein völlig neues Leben zu beginnen. Am Schluss dieses Zyklus, in dem wir innerlich einkehren, lesen wir die Tora zu Ende. Wir lesen aus dem letzten Buch der Tora, dem 5. Buch Mose, bekannt als Dewarim, die letzten Kapitel.
Gesetzestafeln Ganz am Ende des Buches Dewarim dankt G’tt Mosche dafür, dass er die steinernen Tafeln zerbrochen hat. Vielleicht war das wohl die allerschwierigste Aufgabe im Leben von Mosche: das Zerstören der steinernen Tafeln. Doch warum war das gleichzeitig auch seine größte Tat?
Wir erfahren an diesem Beispiel, wie die Psyche eines Menschen funktioniert. Denn für die meisten Menschen ist es außerordentlich schwierig, nach lebenslanger Arbeit an einem Projekt in einem bestimmten Augenblick einzuräumen, dass das gesamte Projekt ein Fehler war, und dann wieder ganz von vorne anzufangen.
Es ist ungemein schwer, nach vielen Jahren intensiver Arbeit innezuhalten, zurückzuschauen, zu entscheiden, dass alles falsch gelaufen ist, sich dann vom zurückgelegten Weg zu verabschieden und ganz von Neuem zu beginnen. Denn Menschen stecken ihre ganze Seele in Lebensprojekte. Mit viel Blut, Schweiß und Tränen sind sie jahrelang dabei, etwas zu schaffen und zu leisten. Die meisten Menschen können nicht einfach den Schalter umlegen und sich eingestehen, dass sie in den vergangenen zehn, 20 oder 40 Jahren auf dem Holzweg waren.
Mosche hatte sich mit viel persönlicher Aufopferungsbereitschaft dafür eingesetzt, die Tora zu empfangen und die steinernen Tafeln entgegenzunehmen. 40 Tage und 40 Nächte ist er – ohne zu essen und zu trinken – auf dem Berg Sinai geblieben, um den Empfang der Tora, symbolisiert durch die steinernen Tafeln, vorzubereiten.
Goldenes Kalb Und dann steigt Mosche vom Berg Sinai hinab und sieht das Volk, wie es um das Goldene Kalb tanzt. Er entscheidet, ihnen die Gesetzestafeln nicht auszuhändigen. Er fühlt, ja spürt, dass es nicht richtig, vielleicht nicht einmal sinnvoll ist, ihnen die Tafeln zu überreichen. Und er findet sogar die Kraft, sie zu zerstören. Denn Mosche sagt sich: »Sie verdienen diese steinernen Tafeln unter diesen Umständen absolut nicht.«
Sein ganzes Leben, sein ganzes Bestreben hatte Mosche in die Gesetzestafeln gesteckt, seine ganze Seele, seine Neschama, sein ganzes Ich. Und doch zerbrach er sie. Musste er das tun? Nein! Er hätte sich ja auch entscheiden können, die steinernen Tafeln zu einem späteren Zeitpunkt an die Kinder Israels zu übergeben.
Mosche hätte ihnen sagen können: »Freunde, ich kann euch die steinernen Tafeln jetzt noch nicht geben. Macht an den kommenden 30 Tagen Teschuwa, also innere Umkehr, läutert euch. Im Anschluss können wir weiter miteinander sprechen.«
Aber Mosche entschied: »Nein, das ist vollkommen verkehrt!« Mosche war also bereit, sein großes Lebensprojekt buchstäblich auf den Abfallhaufen zu werfen und von dannen zu ziehen. Und das ist vielleicht das Schwerste, wofür sich ein Mensch entscheiden kann.
Auslegungsmethode Vor etwa 2000 Jahren lebte der Talmudgelehrte Rabbi Schimon Ha’amsuni. Rabbi Schimon hatte eine eigene, besondere Auslegungsmethode für die Inhalte der Tora. Jedes hebräische Wörtchen »et« konnte er erklären. Nun steht das hebräische Wörtchen »et« viele Tausend Mal in der Tora.
Nehmen wir den ersten Satz der Tora: »Bereschit bara Elohim et Haschamajim we et Haaretz« (»Im Anfang schuf G’tt Himmel und Erde«). Das hebräische Wörtchen »et« ist eine Verbindung, ein Hinzufügen. Jedes Mal, wenn die Tora dieses Wörtchen verwendet, konnte Rabbi Schimon Ha’amsumi es entsprechend deuten.
Er erklärte die gesamte Tora auf diese Art und Weise, bis er zu dem Satz kam: »Et Haschem Elokecha tira« – »Den Ewigen, euren G’tt, sollt ihr fürchten« (5. Buch Mose 6,13). Und da begann er, an seiner eigenen Art der Erklärung zu zweifeln, die er sein Leben lang praktiziert hatte. Denn kann man sich vor etwas anderem fürchten als vor G’tt? Einem anderen G’tt? Unmöglich. Der Rabbiner konnte es nicht begreifen: Wen konnte man hier noch mit einbeziehen? G’tt plus wen?
Was tat Rabbi Schimon Ha’amsumi? Er hörte sofort mit seinen Erklärungen auf. Er erhob sich im Lehrhaus, schlug mit der Hand auf sein Pult und sagte: »Meine Herren, ich habe euch die gesamte Tora verkehrt erklärt, all die vielen Jahre sind meine Draschot fehlerhaft gewesen. Ich bedauere meine Lehrmethode und stelle diese Erklärweise ein.«
Einstein Stellen Sie sich vor, dass Albert Einstein an einem bestimmten Augenblick festgestellt hätte, dass seine Formel der Relativitätstheorie E = mc² nicht stimmen würde. Im Anschluss hätte er seinen Fehler eingestanden und den Nobelpreis zurückgegeben! Solche Größe hat Rabbiner Schimon Ha’amsuni bewiesen. Seine gesamte Karriere war durch sein Eingeständnis ruiniert. Dennoch wollte er dem entsprechen, was er als die einzig echte und unvermeidbare Wahrheit verstand.
Menschen neigen häufig dazu, sich zu verschließen und zu sagen: »Ich habe es immer so gemacht wie mein Vater und wie mein Großvater, und so ist es richtig. Ich werde nichts daran ändern.«
Aber dann kommt der Augenblick, in dem es nicht mehr gut ist. Vernünftige Menschen sind imstande, sich umzudrehen, einen anderen Weg einzuschlagen, ihren Horizont zu erweitern und neue Entscheidungen zu treffen, die ihr Leben und das Leben der ganzen Gesellschaft komplett verändern.
Wir sollten also in den Spiegel schauen und uns selbst die Fragen stellen: »Ist das richtig oder nicht?«, »Ist dies ehrlich?«, »Ist dies geradlinig?,« »Fördert das unser jüdisches Leben?«, »Ist es ein gutes Beispiel für andere?«, »Führt unser Lebensstil zu einer Festigung oder zu einer Schwächung des Judentums, in unserem engeren Kreis und auf breiter Ebene?« Dies gilt für viele Entscheidungen, für die es keine eindeutige und klare Antwort in den religiösen Quellen gibt, genauso wie in der Politik.
Gerechtigkeit So sollten wir auch bei der Bundestagswahl Folgendes in Betracht ziehen: G’tt erwartet von uns Gerechtigkeit und Gutherzigkeit. Diese Werte werden im Judentum oft wichtiger empfunden als »sola fide« – als »nur« zu glauben.
Im 2. Buch Mose 21 und den anschließenden Stellen geht es viel um soziale Gesetzgebung. Ein wichtiges Anliegen der Tora ist der Schutz der Schwachen. Eine Witwe und einen Waisen dürfen wir weder verbal noch finanziell ausbeuten. Wenn wir das trotzdem tun, verspricht G’tt, dass Er auf das Jammern der Armen hören wird.
Weiterhin wissen wir, dass G’tt einen immerwährenden Bund mit dem jüdischen Volk geschlossen hat. G’tt wählte für das jüdische Volk das jüdische Land. Der moderne Antisemitismus heißt Antizionismus. Eine wichtige Frage lautet also: Wie stehen die zu Wählenden zum Staat Israel?
Wir sind nun angewiesen auf unser Gewissen, auf unsere Seele als Kompass, und wir dürfen uns nicht ablenken lassen durch allerlei persönliche Interessen. Und genau darum geht es auch beim jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana: Es ist eine Zeit wichtiger Entscheidungen.
Der Autor ist Dajan beim Europäischen Beit Din, Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).