Wer in letzter Zeit hier bei uns in Israel das Fernsehen anschaltet, muss sich auf markerschütternde Szenen gefasst machen. Das pure Böse der Hamas, die die Geiseln vor ihrer Freilassung erniedrigt, das unermessliche Leid, von dem diese dann berichten, die Ohnmacht der Angehörigen, deren Kinder noch dort sind.
Auch Tali aus Deutschland, die hier anonym bleiben möchte, ringt mit dieser Realität. Sie fragt: »Rabbi, ich kann nicht mehr. Die Bilder der freigelassenen Geiseln, ihre Berichte – und die, die noch dort sind! Ich sehe sie vor mir, Tag und Nacht. Aber wenn ich wegsehe, plagt mich mein Gewissen. Seit Tagen meide ich die Nachrichten. Ist das falsch von mir?«
Eine Frage, die viele bewegt. Wo liegt die Grenze zwischen Mitgefühl und Überforderung? Ich will versuchen, Tali hier eine Antwort zu geben.
»Kein Herz kann zwei Dinge gleichzeitig aufnehmen.«
Viele Juden kennen die einfache Weisheit des Rabbi Nachman, der sagte: »Es ist eine große Mizwa, immer glücklich zu sein.« Das klingt unpassend in Zeiten des Leids, oder? Freude – mitten im Schmerz? Aber Rabbi Nachman ging es nicht um Verdrängung. Er wusste: Wenn du nur noch das Leid siehst, verlierst du die Kraft, etwas zu tun. Er sagte auch: »Kein Herz kann zwei Dinge gleichzeitig aufnehmen.« Mit anderen Worten: Wenn du dein Herz nur mit Schmerz füllst, bleibt kein Platz mehr für Hoffnung, Mut oder Handeln.
Die jüdische Tradition fordert uns auf, füreinander da zu sein (»Kol Israel Arevim Se Base« – ganz Israel ist füreinander verantwortlich). Aber sie verlangt nicht, dass wir uns selbst zerstören. Mitgefühl heißt demnach nicht, sich in der Dunkelheit zu verlieren – sondern trotz allem ein Licht zu bleiben.
Die Wissenschaft hat ein Wort für das, was viele gerade fühlen: Mitgefühlserschöpfung. Wenn du dich zu lange intensivem Leid aussetzt – durch Medien oder persönliche Erlebnisse –, kann dein Körper und Geist darauf mit Erschöpfung reagieren. Plötzlich fühlst du dich hilflos, ausgelaugt, vielleicht sogar taub. Studien zeigen: Ständiger Nachrichtenkonsum über Krisen kann zu »sekundärem Trauma« führen. Das bedeutet: Selbst wenn du nicht direkt betroffen bist, kann dein Gehirn auf all die schrecklichen Bilder reagieren, als wärst du mitten im Geschehen. Angst, Stress, Schlaflosigkeit – all das sind typische Folgen. Kein Wunder also, dass viele irgendwann nur noch abschalten wollen.
Wie bleibt man menschlich, ohne zu zerbrechen? Es geht nicht darum, wegzusehen – sondern darum, stark zu bleiben, um weiter helfen zu können. Hier einige Prinzipien: Setze Grenzen beim Nachrichtenkonsum. Informiere dich, aber dosiert. Kanalisiere deine Energie in Handlung. Spenden, beten, ehrenamtliche Hilfe – aktiv zu werden, gibt ein Gefühl der Kontrolle. Selbstfürsorge ist kein Luxus, sondern notwendig. Familie, Freunde, Gebete, Musik, Toralernen – all das hilft, mental stabil zu bleiben. Erinnere dich an die jüdische Perspektive: Mitgefühl bedeutet nicht Selbstaufgabe.
In der Schlussszene von Schindlers Liste bricht Oskar Schindler zusammen, als ihm bewusst wird, dass er vielleicht noch ein paar Menschen mehr hätte retten können. Doch die Überlebenden um ihn herum sagen: »Du hast so viele gerettet.«
Empathie ist wichtig, aber sie muss eben nachhaltig sein.
Und genau das ist der Punkt: Keiner kann alles tun, aber jeder kann etwas tun. Darf man sich also abgrenzen? Nicht nur darf man – man muss es sogar. Nur so bleibt man handlungsfähig. Empathie ist wichtig, aber sie muss eben nachhaltig sein. Die Kunst ist die Balance: nicht ganz abschotten, aber auch nicht in Schmerz ertrinken. Sich informieren, aber sich nicht zerstören. Mitfühlen, aber nicht die Kraft verlieren zu handeln.
Zum Schluss noch ein tröstendes Bild: Die Kraft des Glaubens ist wie ein Regenschirm. Er verhindert nicht den Regen, aber er hält dich trocken. Rabbi Nachman wusste: Der Regen wird kommen. Schmerz, Herausforderungen, Zweifel – all das ist Teil des Lebens. Aber dein Glaube, deine Hoffnung und bewusste Selbstfürsorge sind der Schirm, der dich davor schützt, durchnässt zu werden. Also: Halte deinen Schirm gut fest. Der Regen kommt sowieso – aber du hast etwas dagegen in der Hand.