An Rosch Haschana sprechen wir das »Awinu Malkenu«-Gebet. Awinu Malkenu bedeutet übersetzt: »Unser Vater, unser König«. Jede Strophe im Gebet wird mit dieser Formel eingeleitet und endet mit einer Bitte wie: »Unser Vater, unser König, segne uns mit einem neuen Jahr« oder »Unser Vater, unser König, nimm voller Barmherzigkeit unser Gebet an«. Der Talmud berichtet (Taanit 25b), dass bereits Rabbi Akiva (also vor 2000 Jahren!) sein Gebet mit den Worten »Unser Vater, unser König« einleitete. Was ist das Geheimnis dieser Worte, die das jüdische Volk seit Jahrtausenden in den heiligsten Momenten spricht?
Um zu verstehen, was es bedeutet, in einer Vater-Kind- und gleichzeitig in einer König-Diener-Beziehung mit G’tt zu sein, müssen wir uns eine andere Stelle aus der Liturgie des Rosch-Haschana-Festes anschauen. Im Mussafgebet des Neujahrstages sprechen wir: »Heute wurde die Welt gezeugt. Heute stehen alle Schöpfungen der Welt vor Gericht. Wie die Kinder? Wie die Diener? Falls wir Kinder sind, so sei barmherzig, wie ein Vater zu seinen Kindern wäre, falls wir Diener sind, so richten wir unsere Augen zu Dir, bis Du Dich unserer erbarmst und unseren Richtspruch zum Licht bringst! Schrecken hervorrufender und Heiliger!«
segen Aus dieser Stelle des Gebetes lässt sich ein Rückschluss auf das »Awinu Malkenu« schließen. Vater und Kind sowie König und Diener sind zwei verschiedene Formen der Beziehung zu G’tt. Er ist der Vater und gleichzeitig auch der König, doch die Frage ist, ob wir die Kinder oder die Diener sind. Ein Kind des Königs lebt im Segen G’ttes, bekommt ein besseres Leben als der Diener des Königs.
G’tt ist im »Awinu Malkenu« der Vater
und gleichzeitig auch der König.
Laut den Kabbalisten ist der Status des Dieners oder des Kindes von den Taten in früheren Leben abhängig. Wer in früheren Reinkarnationen gesündigt hat, wird in diesem Leben von den schlechten Taten gereinigt – lebt daher als »Diener« – weiter entfernt vom g’ttlichen Segen. Dies führt dazu, dass man beispielsweise weniger Erfolg im finanziellen Bereich oder in der Liebe hat.
konzept Eine Anspielung auf dieses Konzept sieht Rabbi Isaak Luria (1534–1574) schon im Talmud. Im Traktat Brachot (34b) sagt Rabbi Jochanan ben Zakkai, dass er einem Prinzen des Königs gleicht, während Rabbi Chanina ben Dosa einem Diener des Königs gleicht.
Rabbi Chanina ben Dosa war bekannterweise so arm, dass seine Familie nicht einmal genug Essen für den Schabbat-Tisch hatte (Taanit 24b). Rabbi Jochanan ben Zakkai war Vorstand des Sanhedrins und gehörte zur Elite des Landes. Rabbi Isaak Luria erklärt, dass Rabbi Chanina ben Dosa in seinem vorherigen Leben einige Fehler begangen hatte und in seiner Inkarnation als Chanina ben Dosa durch die Armut für seine Sünden sühnte.
An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass Rabbi Isaak Luria die Menschen durch die Information, dass vieles in unserem Schicksal ein Resultat früherer Leben ist, nicht demotivieren will, sondern das Gegenteil erreichen möchte: Die Theologie von Rabbi Luria präsentiert ein System der Tikkunim, mit dem man auch Taten aus früheren Leben bereinigen und so ein besseres Schicksal in diesem Leben erreichen kann.
Chassidismus Die Philosophie des Chassidismus präsentiert einen neuen Bezug zum Thema Vater und König. Der Slonimer Rebbe (1911–2000) stellt folgende Frage: »Jedes Jahr hoffen wir, dass wir wie Kinder und nicht wie Diener im Rosch-Haschana-Gebet stehen. Woher wissen wir, ob wir als Diener oder als Kinder gerichtet werden?«
Seine Antwort ist: »Je mehr ich mich wie ein Kind sehe, desto mehr bin ich Kind. Je mehr ich mich wie ein Diener sehe, desto mehr bin ich Diener!« Laut dieser Auffassung ist der Mensch nicht mehr (zumindest nicht ausschließlich) ein Kind oder Diener aufgrund des von früheren Reinkarnationen bestimmten Schicksals, sondern aufgrund der eigenen Wahrnehmung. Wir müssen uns wie die geliebten Kinder sehen, das Selbstverständnis der geliebten Kinder haben, um wie geliebte Kinder gerichtet zu werden. G’tt handelt mit uns so, wie wir es ihm zeigen.
Laut den Kabbalisten ist ein Status als Diener oder Kind von Taten in früheren Leben abhängig.
Rabbi Chaim aus Volozhin (1749–1821) sieht dieses Konzept bereits in den Psalmen verankert: »G’tt ist der Schatten deiner Rechten …« (Psalm 121) und »So wie sich der Schatten abhängig von der Bewegung der Hand bewegt, so bewegt sich auch G’ttes Handeln uns gegenüber, in Abhängigkeit von unserem Handeln.«
Gerechtigkeit Aber ist das fair? Zwei Menschen mit identischen Handlungen, die sich abgesehen davon, dass der eine sich als Kind und der andere als Diener sieht, in nichts unterscheiden, sollen an Rosch Haschana unterschiedlich gerichtet werden? Ich denke, die Antwort auf diese Frage liegt darin, dass alle Gebote ein Element der Tat, der Worte und der Gedanken haben. Das Gebot »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« kann durch Taten der Liebe zu anderen und sich selbst erfüllt werden. Durch Worte der Liebe und auch durch Gedanken.
Dadurch, dass man sich nicht als Diener, sondern als Kind G’ttes fühlt, erfüllt man das Gebot der Tora (auf gedanklicher Ebene) und wird dadurch eines besseren Rechtsspruches würdig als derjenige, der das Gebot nicht erfüllt und sich weiterhin als Diener sieht!
Der Autor ist Religionslehrer und Sozialarbeiter der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.