Rabbi Elieser, der Sohn von Hyrkanos, ist eine ausgekalkte Zisterne, die keinen einzigen Wassertropfen verloren gehen lässt» (Awot 2,8): Mit diesen Worten hat Rabban Jochanan ben Sakkai, der Vorsitzende des Sanhedrin in Jerusalem, das hervorragende Gedächtnis seines Musterschülers Elieser Ben Hyrkanos um die Wende vom 1. zum 2. Jahrhundert beschrieben.
Und tatsächlich begegnet uns Rabbi Elieser in der talmudischen Literatur nicht selten als Sinnbild für den Gelehrten schlechthin, der die unzählbaren Quellen der Tradition kennt.
Dabei war ihm dieses Los laut verschiedenen Erzählungen nicht in die Wiege gelegt. Rabbi Elieser stammte aus einer ungebildeten, in der Landwirtschaft tätigen, aber reichen Familie. Über Rabbi Eliesers Vater Hyrkanos erfahren wir, dass er viele Bedienstete hatte.
WISSensdurst In einer Version der Kindheitsgeschichte von Rabbi Elieser (Awot deRabbi Natan und Pirkej deRabbi Elieser) saß Elieser eines Tages weinend auf dem harten Boden, den er und die Arbeiter seines Vaters bestellten, als er in Tränen ausbrach. «Ich möchte Tora lernen», teilte er seinem Vater mit.«Dafür bist du schon zu alt», erwiderte Hyrkanos seinem 28-jährigen Sohn. «Nimm dir lieber eine Frau und zeuge Kinder. Die kannst du dann in die Schule schicken.»
Doch mit diesem Vorschlag gab Elieser sich nicht zufrieden. Ein Jahrzehnt oder mehr vor der Tempelzerstörung zog er nach Jerusalem, wo er in den Schülerkreis von Rabban Jochanan ben Sakkai aufgenommen wurde, der damals zusammen mit Rabban Schimon ben Gamliel die pharisäische Hillel-Schule führte.
DISKUSSIONSFREUDe Dort wurde sein Kommilitone Jehoschua ben Chananja zu seinem beständigen talmudischen Diskussionspartner (Bar Plugta), mit dem er durch die Mischna und alle Baraitot hinweg in der zweiten Generation der Tannaiten unzählige Meinungsverschiedenheiten haben sollte.
Geheiratet hat Rabbi Elieser schließlich Ima Schalom, die Tochter von Rabban Schimon ben Gamliel. Wie die Erzählung aber weitergeht, war Hyrkanos äußerst unzufrieden mit den neuen Lebensbahnen seines Sohnes. Er drohte, ihn zu enterben, wenn er nicht zurück aufs Land ziehe.
Da Rabban Jochanan ben Sakkai sich jedoch für Rabbi Elieser einsetzte und Hyrkanos erkannte, wie viel Wissen sein Sohn in Jerusalem erlangt hatte und welches Ansehen dieser neue soziale Status ihm einbrachte, versöhnten sich Vater und Sohn.
Als die römische Kriegsmacht schließlich durch Judäa zog und Jerusalem belagert wurde, sollen es auch Rabbi Elieser und Rabbi Jehoschua gewesen sein, die ihrem Lehrer Rabban Jochanan zur Flucht ins römische Heerlager verhalfen, wo dieser den künftigen Wiederaufbau der Jerusalemer Akademie und deren Umzug in die Stadt Jawne mit den Römern aushandelte (Gittin 56a).
Er stammte aus einer bildungsfernen reichen Familie, die in der Landwirtschaft tätig war.
Dort war Rabbi Elieser ein prominenter Richter im neuen Rabbinatsgericht. Sein wichtigster Schüler war der ebenfalls nicht aus einer Gelehrtenfamilie stammende Rabbi Akiva ben Josef.
Rabbi Eliesers Leben ist allerdings auch noch von einem weiteren Bruch gekennzeichnet. Nicht nur, dass er seine ländliche Familie hinter sich ließ, sondern er erfüllte auch die Erwartungen seines Lehrers Rabban Jochanan auf andere Weise, als dieser es gewünscht hatte.
KONSERVATIV «Rabbi Elieser sagte zu Rabban Jochanan: ›Mein Lehrer, ich bin wie eine Zisterne, die nicht mehr Wasser geben kann, als sie erhalten hat. So kann ich auch nur das lehren, was du mir beigebracht hast, aber nichts Neues sagen.‹
Rabban Jochanan erwiderte ihm: ›Nein, mein Schüler, vielmehr kannst du wie eine sprudelnde Quelle sein, die mehr Wasser erzeugt, als offensichtlich in sie hineingefallen ist. Dem ganz gleich kannst du auch mehr Worte der Tora sagen als die, welche unsere Vorväter am Sinai erhalten haben.‹» So heißt es in Pirkej de-Rabbi Elieser, Kapitel 2.
Zwar habe Rabbi Elieser in diesem Moment tatsächlich viele neue Einsichten in die Tora (Chidduschim) sagen können, doch blieb sein späterer halachischer Ansatz eher seinem ursprünglichen Vorbehalt verpflichtet.
So ist Rabbi Elieser in der talmudischen Literatur vor allem dafür bekannt, dass er logischen Ableitungen im Gesetz skeptisch gegenüberstand und sich mithilfe seines ausgezeichneten Gedächtnisses allein an das hielt, was durch die Tradition auf ihn gekommen war: «Nie lehre ich etwas, das ich nicht aus dem Mund meines Lehrers gehört habe» (Sukka 28a).
Mit diesem Ansatz unterschied sich Rabbi Elieser zum Beispiel deutlich von seinem Schüler Rabbi Akiva, der durch allerlei hermeneutische und logische Schlüsse aus dem Überkommenen Antworten auf neue Umstände zu finden pflegte.
Mehrheit Dieser halachische Konservativismus und das Bestehen auf seinem eigenen Überlieferungsstrom führte ihn letztlich zum Bruch mit der rabbinischen Mehrheit. Da Rabbi Elieser unwillig war, sich in einem bestimmten Fall der Meinung der Mehrheit zu beugen, wurde ein Bann über ihn ausgesprochen (Bava Metzia 59b).
Doch kurz bevor er in seinem akademischen Exil in Lod starb, versammelten sich seine Schüler und Kollegen, begleiteten ihn in seinen letzten Stunden und lösten den Bann, der über ihn verhängt worden war, nachträglich auf. Sein letztes Wort soll «rein» gewesen sein (Sanhedrin 68a).
In dieser Reihe stellen wir in unregelmäßigen Abständen Talmudgelehrte vor. Der Autor dieses Textes ist Rabbiner und arbeitet an der Universität Potsdam.