Herr Rabbiner Soussan, am kommenden Montag, den 21. Januar, ist Tu Bischwat. Haben Sie sich manchmal gefragt, warum wir in der Diaspora mitten im Winter das Neujahrsfest der Bäume feiern? Macht das Sinn?
Das ist natürlich die klassische Frage zu diesem Feiertag. Aber genau darin liegt ja auch die Botschaft dieses Festes. Auch in Israel blühen an Tu Bischwat noch nicht alle Bäume, aber es geht um das Potenzial. Und deshalb macht es Sinn, dieses Fest auch hier zu feiern.
Können Sie das genauer erklären?
Die erste Botschaft von Tu Bischwat ist der Neuanfang. Der Winter ist ein Synonym für den Tod, im Winter liegt alles brach. Es gibt eine schöne Erklärung der Rabbiner, die sagen: Jeder Bauer erlebt nach dem Ende des Winters das Auferstehen der Toten, in der Natur gespiegelt. Der Tod ist also nicht das Endgültige, sondern das Leben beginnt wieder von vorne, es erneuert sich, es gibt eine Kontinuität. Und die zweite Botschaft ist die Kraft der Natur. Wir könnten auch in Israel Tu Bischwat erst dann feiern, wenn alle Früchte schon am Baum hängen. Aber wir feiern es eben zu Beginn der Baumblüte, in der Hoffnung, dass etwas daraus wird. In der Tora steht: »Der Mensch ist wie der Baum des Feldes.« Auch der Mensch muss sein Potenzial entwickeln. Und das Gleichnis, das die Kabbala uns zu dieser Torastelle bringt, ist, dass ein Baum ja praktisch verwurzelt ist in der Erde mit einem Stamm, mit Zweigen und Früchten. Das entspricht dem Menschen, der verwurzelt ist in seiner Tradition, seinen Ursprüngen. Der Mensch ist der Stamm, das Lernen entspricht der Tora, und die Früchte sind dann die guten Taten, die ein Mensch tut. Mit dem einzigen Unterschied, so sagt die Kabbala: Unsere Wurzeln sind im Himmel, wir sind wie ein umgedrehter Baum.
Wo finden wir in unseren Quellen noch Hinweise auf Bäume?
Bäume sind in unserer Tradition sehr verwurzelt. Das Erste, was Gott uns in der Tora optisch beschreibt, ist ein Garten, der Garten Eden. Es gibt dort den Baum des Lebens, die Tora selbst wird als Lebensbaum bezeichnet. Und die Natur steht auch immer für die Investition in die Zukunft. Ein Klassiker ist dabei natürlich die Geschichte von Choni Hame’agel, dem Kreiszeichner, im Talmud.
Das bekannteste Lied von Tu Bischwat heißt: »Der Mandelbaum blüht«.
Auch das Synonym für Tu Bischwat, der Mandelbaum, wird im Talmud erwähnt, weil seine Früchte sich am schnellsten entwickeln: Laut Talmud vergehen von der Blüte bis zur Frucht nur 21 Tage. Der Mandelbaum kommt auch beim Propheten Jeremia vor: Er soll die Zerstörung des Tempels aufhalten, und das Erste, was Gott ihm zeigt, ist der Ast eines Mandelbaums. Einer der Kommentatoren, Radaz, sagt dazu: Weil Jeremia keinen blühenden Ast gesehen hat, sondern einen blanken Ast, muss der Prophet sich beeilen, um diese Zerstörung aufzuhalten. In der Zerstörung steckt also schon die Hoffnung auf Erneuerung. Das heißt: Selbst, wenn der Tempel zerstört wird oder wurde, haben wir Hoffnung auf die Erneuerung. Wir arbeiten also darauf hin, dass der Baum wieder blüht und die messianische Zeit anbricht.
Sie haben die Kabbala erwähnt. Wann hat sich der Brauch entwickelt, Tu Bischwat mit einem Sederabend zu feiern?
Ursprünglich war Tu Bischwat nur der Zeitpunkt einer steuerrechtlichen Erhebung. Sie war notwendig im alten Israel, weil man auch von den Früchten den Zehnten abgegeben hat, um sicherzugehen, dass man erst einmal die Ernte des Vorjahres trennt von der Ernte des nächsten Jahres, weil zu diesem Zeitpunkt der Baum anfängt, wieder neue Früchte zu tragen. Im 16. Jahrhundert haben dann die Kabbalisten in Safed die Verbindung zum Land, die sie ja auch selbst neu geprägt haben, anlässlich von Tu Bischwat bewusst hergestellt. Man hat dafür eine spezielle Haggada geschrieben und nach dem Vorbild von Pessach auch einen Sederabend eingeführt.
Ganz ehrlich: Wie populär ist in unseren Gemeinden der Tu-Bischwat-Seder, zum Beispiel in Frankfurt?
Als Rabbiner machen wir das eigentlich immer sehr groß in der Gemeinde, als Familienevent. Wir gehen nicht raus, das macht ja bei diesem Wetter wenig Sinn, aber wir nutzen als Alternative zum Beispiel Blumentöpfe und Kressköpfe, in die man verschiedene Saaten einfüllt, und die wachsen dann über die nächsten Wochen. Wir veranstalten auch gemeinsam mit KKL, dem Jüdischen Nationalfonds, einen Tu-Bischwat-Seder mit Haggada, wir singen und essen gemeinsam. Und wenn man auf Israel hin orientiert und Zionist ist, dann macht das auch Sinn, weil es in Israel ja Brauch ist, an Tu Bischwat Bäume zu pflanzen.
Auch die sieben Arten von Früchten, die wir an Tu Bischwat essen, sind typisch israelisch.
Ja, das sind die sieben Arten von Früchten, die in der Bibel namentlich erwähnt werden. Man beginnt mit der Olive, die einen harten Kern hat, und dann gibt es die Dattel, deren Kern hart, aber süß ist, und dann wird es immer weicher: Feigen und Trauben haben nur kleine Kerne. Und zum Schluss kommt der Granatapfel, der nur aus weichen Kernen besteht. Übrigens: Wer schon einmal Früchte aus Israel gegessen hat, weiß genau, dass man sie nicht mit Obst aus hiesigen Gewächshäusern vergleichen kann.
Können wir diesen Unterschied ausgleichen?
Wir vermissen zwar den Geschmack und vor allem die Heiligkeit des Landes Israel, aber alles, was wir essen, heiligen wir auch in der Diaspora mit einem Segensspruch. Wir wollen also bewusst mit unseren Nahrungsmitteln umgehen. Beim Tu-Bischwat- Seder sprechen wir außerdem den Segensspruch »Schehechejanu«: »Gelobt seist Du, unser G’tt, König der Welt, der Du uns am Leben erhalten und uns diese Zeit hast erreichen lassen.«
Das Gespräch mit dem Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland führte Ayala Goldmann.