Ist es ungehörig, wenn jemand wissen möchte, ob eine bestimmte Person von Geburt an jüdisch ist oder ob sie zum Judentum übergetreten ist? Keinesfalls! Da die Tora, wie im Folgenden dargelegt werden soll, eine besondere Vorsicht beim Umgang mit einem Konvertiten (hebräisch: Ger) vorschreibt, ist es für die Praxis wichtig zu wissen, ob man es mit einem Ger zu tun hat oder nicht. So wie auch jeder wissen sollte, welcher Mann ein Kohen ist, da diesem bestimmte Formen der Ehrung zustehen.
In einer Barajta lesen wir: »Rabbi Elieser der Große sagte: ›Weshalb hat die Tora an 36 Stellen, manche sagen: an 46 Stellen, hinsichtlich eines Proselyten gewarnt? Weil sein angeborener Trieb schlecht ist‹« (Baba Metzia 59b).
Raschi (1040–1105) zitiert diese Gemara in seinem Kommentar zum Vers: »Und den Ger bedrücke nicht« (2. Buch Mose 23,9). Die nicht ausformulierte Frage, auf die Raschi eine Antwort gibt, lautet: Warum wiederholt die Tora, was sie schon früher verboten hat. »Und einen Ger sollst du nicht kränken und ihn nicht bedrücken« (2. Buch Mose 22,20)? Als Grund für die Wiederholung wird die Gefahr angeführt, der Ger werde, falls man ihn bedrückt, zu der früheren Haltung seines bösen Triebs zurückkehren.
Warum verbietet die Tora die Kränkung eines Übergetretenen in einer besonderen Mizwa?
Ein Ger gilt als ein Jude wie jeder andere, von dem es heißt: »Und kränkt nicht einer den anderen« (3. Buch Mose 25,17). Warum verbietet die Tora die Kränkung eines Übergetretenen in einer besonderen Mizwa? Der Autor des Sefer HaChinuch nennt folgenden Grund: um eigens davor zu warnen, dass jemand die Hilflosigkeit eines Gers ausnutzen könnte. Andere Juden haben Angehörige, die sie gegen eine Kränkung verteidigen werden; Konvertiten hingegen nicht.
Bisher haben wir den Ger betreffende Verbote besprochen, nun sei von einem Gebot die Rede: »Liebet den Ger!« (5. Buch Mose 10,19). Bei dieser Mizwa drängt sich die Frage auf: Warum hat die Tora der Liebe zum Ger eine eigene Mizwa gewidmet? Das Gebot: »Liebe deines Nächsten Wohl wie deines« (3. Buch Mose 19,18) bezieht sich selbstverständlich auch auf Übergetretene.
Eine interessante Antwort darauf findet man im Kodex von Maimonides, dem Rambam (1135–1204): »Die Liebe zum Ger hat Gott befohlen wie die Liebe zu Ihm selbst, denn so heißt es ja auch (5. Buch Mose 6,5): ›Du sollst den Ewigen, deinen Gott lieben‹« (Hilchot Deot 6,4). Maimonides sieht also eine Parallele zwischen der Liebe zum Ger und der Liebe zu Gott.
Niemand kann den Nächsten so lieben wie sich selbst
Die Liebe zum Nächsten, so können wir schließen, ist von anderer Art. Sie ist begrenzt: Niemand kann den Nächsten so lieben wie sich selbst. Vielmehr soll jeder den Nächsten so behandeln, wie er von ihm behandelt werden möchte. Die Liebe zu Gott ist anders: Mit dem ganzen Herzen soll man den Ewigen lieben. Und eine solche Art der Liebe soll der Ger erfahren.
Bemerkenswert ist, dass Maimonides an der angegebenen Stelle hinzufügt: »Der Heilige, gelobt sei Er, liebt selbst die Konvertiten, denn es heißt: ›Und Er liebt den Ger‹« (5. Buch Mose 10,18). Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) bemerkt dazu: »Pfleget Gott ähnlich die gleiche Gesinnung, zeiget in der Aufnahme, die der aus der Fremde bei euch Eintretende findet, wie euch das reine Menschtum das Höchste gilt.«
Im Sefer HaChinuch steht, dass ein Jude vom Gebot, den Ger zu lieben, lernen kann, dass man erbarmungsvoll mit einem Menschen umgehen soll, der sich fern seiner Heimat und der schützenden Familie befindet. Freilich merkt Rabbiner Joseph Babad (1801–1874) in seinem Werk Minchat Chinuch an, dass diese Anweisung nicht mehr ist als eine moralische Empfehlung; die Mizwa spricht nämlich nur von einer solchen Person, die zum Judentum übergetreten ist.
Im Hinweis des Sefer HaChinuch, dass wir von der Mizwa, einen Ger zu lieben, etwas ableiten können, haben wir übrigens ein schönes Beispiel für die Entstehung von Handlungen der Frömmigkeit (hebräisch: Chassidut). Chassidut besteht in der Erweiterung gesetzlicher Bestimmungen, wenn eine solche zulässig und sinnvoll ist.