Künstliche Intelligenz

Wertvolle Weisheit

Foto: Getty Images/iStockphoto

Im November ging »Chat GPT«, ein textbasiertes Dialogsystem, an den Start, eine Plattform für Künstliche Intelligenz mit verblüffenden Fähigkeiten, die fortan kostenlos für die Allgemeinheit im Netz zur Verfügung steht. Damit nähert sich die einst rein theoretische Diskussion darüber, dass Menschen in manchen Bereichen durch Computer und Roboter ersetzt werden könnten, um einen großen Schritt der Realität an.

Ich habe den Textgenerator getestet. Als ich ihn bat, ein Gedicht über meine Familie zu verfassen und bestimmte Details von einer von mir angegebenen Website einzubeziehen, spuckte er sofort einige personalisierte Verse aus. Dann bat ich um die Einschätzung zu einer Rede, die ich geschrieben hatte. Ich bekam sowohl detailliertes positives Feedback, was ich richtig gemacht hatte, als auch konstruktive Kritik, was ich noch verbessern könnte.

ersatz Einige meinen, dass dies eine schreckliche Neuerung sei. Und in der Tat sind die potenziellen Auswirkungen, die der Ersatz eines so großen Teils menschlicher Arbeit mit sich bringt, beängstigend. Aber ich glaube, dass dies zugleich einer der befreiendsten Momente in der Geschichte der Menschheit ist. »Warum?«, werden Sie zu Recht fragen. Was bleibt uns dann noch?

Die Vorstellung, dass alles, was wir tun können, wahrscheinlich viel schneller und viel besser umsetzbar sein wird, ist realistisch und beunruhigend zugleich.

Die Vorstellung, dass alles, was wir tun können, wahrscheinlich viel schneller und viel besser umsetzbar sein wird, ist sowohl höchst realistisch als auch höchst beunruhigend. Zugleich können wir jedoch von einem tiefen Gefühl der Erleichterung erfüllt sein.

Als menschliche Wesen waren und sind wir immer damit beschäftigt, unsere Umwelt zu beherrschen. Wir streben ständig nach Perfektion, wollen unser Spiel verbessern, unsere Produktivität steigern, höhere Maßstäbe setzen. Wir nehmen unseren Wert oft in Form von Leistung wahr; je mehr wir schaffen, desto wertvoller sind wir.

stress Dies führt zu unsagbarem Stress, Druck und Traurigkeit. Wir fühlen uns hohl und wertlos, wenn wir nichts tun, nichts erreichen und unseren Erfolg nicht mit anderen messen. Wir verfolgen endlos unrealistische Ziele, entweder, um flüchtige Momente der Befriedigung zu erreichen oder um von uns selbst oder unseren Mitmenschen enttäuscht zu sein.

»Chat GPT« sollte uns aus dieser Falle befreien. Künstliche Intelligenz wird uns wahrscheinlich bald in allem übertreffen und unsere Hoffnungen, unseren Wert durch Leistung und Überlegenheit zu definieren, völlig zerstören. Was auch immer ich mir als Predigt ausdenke, jeder im Publikum kann es jetzt besser machen. So viel menschlicher Erfindungsreichtum und Innovation wird von der Technologie, die der Allgemeinheit zur Verfügung steht, weit übertroffen werden.

Es ist nicht das Ergebnis, sondern der Prozess, der zählt.

Wir können endlich wirklich verstehen, warum wir hier sind, warum G’tt uns geschaffen hat. Ein Grundgedanke des jüdischen Glaubens ist, dass wir nichts für G’tt »tun«; er ist vollkommen und braucht uns in keiner Weise.

selbstentfaltung Im Gegensatz zu den heidnischen Göttern, die nach Opfern hungerten, gut genährt und unterhalten werden mussten, glauben wir an einen G’tt, der uns geschaffen hat und uns auf Selbstentfaltung hinarbeiten lässt, nicht auf das Erreichen von Vollkommenheit. Ja, wir streben sicherlich danach, die Welt zu verbessern, aber in Wirklichkeit ist das nur ein Kanal und ein Fokus für uns, um unsere Persönlichkeiten, Umstände und Herausforderungen zu nutzen, um das Beste aus uns zu machen.

Er gibt uns eine vollkommen spirituelle Seele und einen vollkommen physischen Körper und bittet uns, das Beste aus diesem inneren Widerspruch zu machen. Unser Ziel ist es nicht, draußen in der Welt das Beste zu erreichen, sondern in uns selbst das Beste zu erreichen. Und der Weg, wie wir die Welt zur Vollkommenheit bringen, besteht nicht darin, ihre Probleme zu beheben, sondern darin, unsere eigene Körperlichkeit zu überwinden und spirituellere Menschen zu werden.

Der Wert von Wissen und Weisheit liegt nicht in ihrer eigentlichen Existenz, in ihrer objektiven Realität.

Es ist nicht das Ergebnis, sondern der Prozess, der zählt. Wie meine Frau es ausdrückte, hat G’tt Engel geschaffen, die perfekt sind. Wenn er Vollkommenheit gewollt hätte, hätte er es dabei belassen können. Aber in Wirklichkeit wurden sie nur erschaffen, um der Welt zu dienen, die Er für uns unvollkommene Menschen geschaffen hat.

fehlbarkeit Wenn wir von Angesicht zu Angesicht auf etwas starren, das unfähig ist, unvollkommen zu sein und Fehler zu machen, werden wir mit unserer eigenen Begrenztheit, unserer Fehlbarkeit – und unserer Menschlichkeit – konfrontiert. Wir sind etwas Besonderes, nicht aufgrund dessen, was wir tun können, sondern aufgrund unserer sehr menschlichen Fähigkeit, die Stärken und Schwächen, die G’tt uns gegeben hat, zu nutzen und unser Bestes daraus zu machen.

Der Wert von Wissen und Weisheit liegt nicht in ihrer eigentlichen Existenz, in ihrer objektiven Realität. Erst durch die Übertragung der Weisheit von G’tt auf uns wird die Weisheit wirklich wertvoll. Durch diese Übertragung, insbesondere durch die Weisheit der Tora, nehmen wir einen Teil von Ihm in uns auf und inkorporieren ihn. Und das ist etwas, was kein Algorithmus jemals tun kann.

Der Autor ist Programmdirektor des Rabbinerseminars zu Berlin.

Tradition

Jesus und die Beschneidung am achten Tag

Am 1. Januar wurde Jesus beschnitten – mit diesem Tag beginnt bis heute der »bürgerliche« Kalender

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  01.01.2025 Aktualisiert

Chanukka

Sich ihres Lichtes bedienen

Atheisten sind schließlich auch nur Juden. Ein erleuchtender Essay von Alexander Estis über das Chanukka eines Säkularen

von Alexander Estis  31.12.2024

Brauch

Was die Halacha über den 1. Januar sagt

Warum man Nichtjuden getrost »Ein gutes neues Jahr« wünschen darf

von Rabbiner Dovid Gernetz  01.01.2025 Aktualisiert

Mikez

Schein und Sein

Josef lehrt seine Brüder, dass die Dinge nicht immer so sind, wie sie auf den Betrachter wirken

von Rabbiner Avraham Radbil  27.12.2024

Chanukka

Wie sah die Menora wirklich aus?

Nur Kohanim konnten die Menora sehen. Ihr Wissen ist heute verloren. Rabbiner Dovid Gernetz versucht sich dennoch an einer Rekonstruktion

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.12.2024

Resilienz

Licht ins Dunkel bringen

Chanukka erinnert uns an die jüdische Fähigkeit, widrigen Umständen zu trotzen und die Hoffnung nicht aufzugeben

von Helene Shani Braun  25.12.2024

»Weihnukka«?

Chanukka und Weihnachten am selben Tag

Ein hohes christliches und ein bekanntes jüdisches Fest werden am 25. Dezember gefeiert

von Leticia Witte  24.12.2024

Rheinland-Pfalz

Volker Beck kritisiert Verträge mit Islam-Verbänden

Zu den Partnern des Bundeslandes gehören jetzt Ditib, Schura und Ahmadiyya Muslim Jamaat

 22.12.2024

Hessen

Darmstadt: Jüdische Gemeinde stellt Strafanzeige gegen evangelische Gemeinde

Empörung wegen antisemitischer Symbole auf Weihnachtsmarkt

 19.12.2024 Aktualisiert