Lena Gorelik
Gesetze haben diese Eigenschaft an sich: gerade Linien zu ziehen. Sie ordnen ein, schließen aus, bestimmen, erlauben und verbieten. Sie tun es robotergleich. Menschen aber sind keine Roboter, sie haben die Begabung, in Zwischenräumen zu denken, Zwischentöne zu bilden und Empathie zu empfinden, sie haben die Fähigkeit, sich zu entwickeln und um die Ecke zu denken. Die Halacha ist ein Gesetz, mit dem Gesetz umgehen müssen die jüdischen Gemeinden, in denen aber – und das ist ein wichtiges Aber – Menschen arbeiten, sich Menschen begegnen. Sie sind es, die Entscheidungen treffen: Wie, zum Beispiel, gehen wir mit der Halacha um? Wie legen wir Gesetze aus, schaffen wir es, Zwischentöne zu bilden, wie können wir Menschen willkommen heißen, die nicht halachisch jüdisch sind, aber eben doch jüdisch, eben ohne die Halacha, wie können wir Diversität leben? Zeiten ändern sich, Gesellschaften ändern sich, das Verständnis von Identität. Dagegen lässt sich argumentieren: die Halacha aber nicht. Das ist ein Totschlagargument, und es ist keins. Die Halacha ändert sich nicht, aber unseren Umgang mit Linien, den können wir jederzeit ändern.
Rabbiner Arie Folger
Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren oder ordentlich zum Judentum übergetreten ist. Dass das Religionsgesetz bezüglich der Matrilinearität erst in der Mischna auftaucht, ist schlicht die Behauptung jener, die generell nicht bereit sind, eine Kontinuität zwischen der Halacha und dem »biblischen Judentum« zu sehen. Im Tanach gibt es verschiedene Stellen, die auf die Matrilinearität der jüdischen Zugehörigkeit hinweisen. Dieses Gesetz wird sich nicht ändern. Sollten jüdische Gemeinden auch Vaterjuden aufnehmen, dann wird die Mitgliedschaft im Ausland auf noch mehr Skepsis stoßen und werden Bescheinigungen der deutschen Gemeinden nicht besonders wertvoll sein. In den USA hat der Versuch progressiver Gemeinden in den letzten 30 Jahren mit dem sogenannten Outreach an gemischtkonfessionelle Familien die Zahl aktiver Mitglieder statistisch nicht besonders steigen lassen. Dafür tun jene Gemeinden wesentlich weniger, um die jüdische Identität der jüdischen Mitglieder zu vertiefen. Das Netto Resultat ist, dass sich immer mehr junge Menschen als Konfessionslose jüdischer Herkunft bezeichnen. Viel besser ist es, jüdischen Kindern eine stärkere, inhaltsvollere formelle und informelle jüdische Erziehung zu bieten. Vaterjuden, die ernsthaft dem Judentum angehören und aktive Mitglieder werden wollen, machen bereits gerne einen Gijur, wobei aber Gemeinden ihren Rabbinaten generell mehr Mittel zur Verfügung stellen können (und sollen), um mehr Initiativen entwickeln zu können.
Margarita Khomenker
In meiner früheren Tätigkeit als Madricha und Jugendzentrumsleiterin habe ich die Erfahrung gemacht, dass halachische und nichthalachische Kinder am Kinder- und Jugendprogramm der Gemeinde teilnehmen konnten. Die patrilinearen Kinder kamen häufig aus christlich-jüdischen Familien und hatten möglicherweise eine komplexere Identitätskrise zu bewältigen als die halachischen Kinder. Umso mehr haben die Madrichim und Madrichot diese Kinder in die jüdische Gemeinschaft sowie in die jüdischen Feiertage und Bräuche eingeweiht. Viele dieser Kinder haben später zusammen mit ihren Müttern den Übertritt in das Judentum absolviert. Leider durften früher diese Kinder viele jüdische Veranstaltungen wie Machanot außerhalb der Gemeinde nicht besuchen. Ich hoffe, dass es sich mittlerweile geändert hat. Denn eine »vollwertige« Mitgliedschaft in der Gemeinde sollte sich meiner Ansicht nach nicht nach den »richtigen Großeltern« ausrichten, sondern nach der Bereitschaft, Teil der jüdischen Gemeinschaft zu sein und aktiv am Gemeindeleben teilzunehmen. Viele jüdische Gemeinden und auch jüdische Kindergärten und Schulen sind offen für nichthalachische Kinder und Jugendliche. Ich hoffe, dass noch mehr jüdische Gemeinden und Organisationen beschließen, nichthalachische Menschen mit jüdischen Wurzeln aufzunehmen.
Nachumi Rosenblatt
Seit jeher ist es so, dass man Jude ist, wenn man eine jüdische Mutter hat. Es besteht auch die Möglichkeit, zum Judentum zu konvertieren, aber die automatische Zugehörigkeit zum Judentum wird mit der Geburt festgelegt und richtet sich nach der Mutter. In den 50er-Jahren schickte David Ben Gurion 50 Persönlichkeiten, die als die Gelehrten Israels galten, einen Brief mit der Frage: »Wer ist jüdisch?« Ein großer Teil der Gelehrten – und nicht nur die Frommen – rieten ihm, sich nach der halachischen Formel zu richten. 70 Jahre später befinden wir uns an einem anderen Punkt. Warum ist die Lage heute so anders? Zuerst, weil sich ein großer Teil der Juden heute praktisch und geistig sehr weit von der Halacha entfernt hat. Manche, weil sie die Halacha nicht kennen, und andere, weil sie der Meinung sind, dass die Halacha nicht relevant ist, um die Frage der jüdischen Nationalität zu klären. Die Halacha hat aus ihrer Sicht keine Existenzberechtigung. Und wenn sie auftaucht, ist sie höchstens eine Last. Ihrer Meinung nach ist es auch nicht mehr notwendig, die jüdische Identität nach der Mutter auszurichten, um die jüdische Nationalität zu bewahren. Der Oberste Gerichtshof in Israel wurde mehrfach gebeten, diese Frage zu erörtern, und konnte sich schwer entscheiden, ob die Zugehörigkeit zum jüdischen Volk nach zivilen oder halachischen Richtlinien entschieden werden soll. Der Oberste Gerichtshof bestimmte: Die Bedeutung der Halacha ist zu respektieren, ihre Bedeutung ist nicht nur vom religiösen Standpunkt, sondern auch aus historischen, ethnologischen, soziologischen, psychologischen, zionistischen und moralischen Gründen sehr groß. Man muss also die Meinung der Halacha berücksichtigen und kann sie nicht ignorieren, weil sie auf die Geschichte des jüdischen Volkes, seine Kultur und seine Struktur Einfluss hat. Vor etwas mehr als 30 Jahren beschloss die Reformbewegung, eine dominante Strömung im amerikanischen Judentum, diese Tradition abzuschaffen. Sie entschied, dass auch jemand, dessen Mutter nicht jüdisch ist, als Jude gilt, solange der Vater jüdisch ist. Von dem Moment an, an dem die Reformen den Grundsatz akzeptierten, dass jemand, der einen jüdischen Vater hat, ebenfalls jüdisch ist, entstand eine Situation, als ob die Zugehörigkeit zum Judentum nach der Mutter die persönliche Auffassung der »Orthodoxen« ist. Und wenn säkulare Juden von Orthodoxie hören, denken sie sofort an Dinge, die sie nicht mögen oder wertschätzen. Sie sind dagegen – und von dort aus ist der Weg zur automatischen Ablehnung ein kurzer. Die »jüdische Mutter« wird also mit der Orthodoxie identifiziert, was sie zu einem Zankapfel macht. Und wo finden wir diesen Zankapfel? Zu meinem Leidwesen in fast allen jüdischen Gemeinden in Deutschland! In Deutschland stellt sich die Situation besonders dar. Viele der aus der Sowjetunion Zugewanderten kamen als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland, konnten aber oft keine Mitglieder in einer jüdischen Gemeinde werden. Wahrscheinlich wird es keinen anderen Weg geben: Die Gemeindevorsitzenden und Rabbiner werden gemeinsam über einen Weg nachdenken müssen, der einerseits die Grundsätze der Halacha berücksichtigt und es gleichzeitig ermöglicht, Menschen in unsere Gemeinden aufzunehmen, besonders solche, die beschlossen haben, ihr Schicksal mit dem jüdischen Volk zu verknüpfen, so wie es in den Programmen gehandhabt wurde, mit denen man das sowjetische Judentum in Israel und in den USA aufnahm.
Esther Schapira
Zu jüdisch für die Nazis, nicht jüdisch genug für die Juden. Das eine habe ich begriffen, als ich als Kind in einer Ausstellung auf die Rassentafel der Nürnberger Gesetze schaute, das andere, als ich nicht mitfahren durfte in die Ferienfreizeit der ZWST. Mein Vater hat die Schoa überlebt und mir den koscheren Namen gegeben und damit zwangsläufig den Auftrag, mich mit meiner jüdischen Geschichte auseinanderzusetzen. Das tue ich zeitlebens, aber mein Platz bleibt zwischen den Stühlen. Bequem ist es dort nicht. Und es tut oft weh. Für meine Gegner bin ich Jüdin. Punkt. Denen ist die Halacha egal. Sicher, die Schrift, die Tora haben das Judentum überleben lassen, aber die Öffnung für neue Gedanken hat es mit Leben gefüllt. Mein Wunsch für 5782: mehr Zusammenhalt in Vielfalt! Ausgrenzung ist keine jüdische Tugend, sondern alltägliche Erfahrung, die ich teile. Mein Großvater sel. A. war ein koscherer Bäcker in der Bukowina, aber seine Enkelin soll nicht dazugehören? Ist mir egal. Im Notfall wäre ich zumindest jüdisch genug für die Einwanderung nach Israel – hoffe ich jedenfalls.
Rabbiner Andrew Steiman
Das ist eine sehr persönliche Stellungnahme zum Thema, welches früher gar keines war. Als ich in den 60er-Jahren mit meinen Eltern aus Amerika nach Frankfurt kam, war mir das Jugendzentrum der Gemeinde ein wichtiger Ort auf der Suche nach neuen Freunden. Und ich fand sie. Bis heute sind diese Freunde im besten Sinne eine jüdische Gemeinschaft. Darunter sind einige ohne jüdische Mutter. Dennoch waren und sind sie Juden. Wann genau es zum Thema wurde, ob jemand auch eine jüdische Mutter hat, kann ich nicht so genau sagen. Aber irgendwann bekam ich mit, dass einige Freunde nicht mit auf Machane fahren durften. Und natürlich bekam ich auch die Stimmung mit, die dadurch ausgelöst wurde. Die Tränen, das Gefühl der Ausgrenzung, der Ungerechtigkeit. Das hat mich geprägt und prägt mich bis heute auch in meiner Eigenschaft als Rabbiner. Die Rabbinerkonferenz hat beschlossen, dass den »Vaterjuden« zu helfen sei. Wie gesagt: Früher gab es nicht einmal diesen Begriff. So ist es mir schon aus meinen Jugenderfahrungen heraus eine Herzensangelegenheit, diesen Beschluss auch umgesetzt zu sehen. Wo ein halachischer Wille – da auch ein halachischer Weg. Leider muss ich erleben, wie »Vaterjuden« von Rabbinern hingehalten werden. Zum Bet Din gehören nun mal drei Rabbiner, und dann kann eine/r von ihnen plötzlich den anberaumten Termin nicht halten oder ein anderer (oder eine andere) besteht plötzlich auf neuen Kursen, die zu besuchen sind. Und die Betroffenen lassen das über sich ergehen. Sie vertrauen mir ihre Angst an vor dem Bet Din, von dem ihr jüdischer Status abhängt. Und die Rabbiner haben oft Angst voreinander und erhöhen deswegen ihre Messlatte, um etwas zu zeigen, was nicht nötig ist – auf Kosten derjenigen, die von ihnen abhängig sind. Diese Ängste sollten ernst genommen und nicht tabuisiert werden. Es gibt wunderbare Rabbiner – aber auch solche, die es auszukosten scheinen, Macht über den Status anderer Juden ausüben zu können. Und ich sehe sie auch schon über mich herfallen für diese Zeilen. Ich schreibe sie für diejenigen, die diese Macht zu spüren bekommen. Dabei haben viele von ihnen seit Geburt eine jüdische Sozialisation – was nicht auf alle Rabbinerinnen und Rabbiner in Deutschland zutrifft. Klingt absurd – ist es auch.
Zusammengestellt von Eugen El, Ayala Goldmann und Katrin Richter