An Simchat Tora, dem sogenannten Tora-Freudenfest, schließen wir den Jahreszyklus der Toralesung ab und sind zufrieden. Wir freuen uns, die gesamte Tora ein weiteres Mal gelesen und gelernt zu haben und schauen zurück. Dieser Rückblick soll uns die Gelegenheit geben, eine prinzipielle Überlegung über die Tora und ihre Vorschriften anzustellen.
Widerspruch Als Ausgangspunkt sollen uns zwei gegensätzliche, sich auf den ersten Blick widersprechende Aussagen der Tora und ihrer Interpreten dienen. Einige Exegeten weisen in ihrem Kommentar zu Wesot Habracha – dem an Simchat Tora vorgelesenen Abschnitt der Tora – auf diesen scheinbaren Widerspruch hin (Raschi, Chiskuni und Or Hachajim zum 5. Buch Moses 33, 2-3).
Einerseits können wir in der Tora explizit lesen, dass sich das jüdische Volk am Berg Sinai aus vollkommen freien Stücken, ohne jeglichen Druck, bereit erklärt hat, alle Vorschriften der Tora zu akzeptieren. »Alles, was Gott gesagt hat, wollen wir tun«, bekennt das Volk vor Mosche (2. Buch Moses 24, 3,7) und bringt damit zum Ausdruck, dass es »alle Worte Gottes und alle Gesetze« (Vers 3) freiwillig auf sich nimmt: »Na’ase wenischma« (Vers 7).
Andererseits jedoch zeichnet ein bekannter Midrasch ein ganz anderes Bild. Er stützt sich auf einen Vers in der Tora und baut darauf seine Sicht der Dinge auf. Gemäß dem Midrasch hat das jüdische Volk die Tora und ihre Gesetze ganz und gar nicht freiwillig auf sich genommen, vielmehr sei es unter großem Druck von Gott dazu gezwungen worden.
Offenbarung Der Midrasch weist auf eine ungewöhnliche Formulierung hin. Bei der Beschreibung der Offenbarung der Tora am Berg Sinai ist zu lesen, dass Mosche das Volk von seinem Lager, das in einer gewissen Entfernung vom Berg Sinai aufgeschlagen war, »Gott entgegen«, das heißt, zum Berg Sinai führte (2. Buch Moses 19,17). Im selben Vers schreibt die Tora, dass sich das Volk danach »Betachtit Hahar« aufstellte.
Im einfachen Sinn des Wortes bedeutet diese Formulierung, dass sich das Volk am Fuß des Berges aufstellte, um dort die Tora von Gott zu empfangen. In den Augen des Midrasch jedoch ist die Wortwahl »Betachtit Hahar« außergewöhnlich und will hier etwas andeuten.
»Tachtit« erinnert an das Wort »tachat«, das »unter« bedeutet und gemäß dem Midrasch hier zu verstehen geben will, dass bei der Offenbarung der Tora etwas Sonderbares geschah. Gott habe – wie der Midrasch sich ausdrückt – den Berg Sinai aus dem Boden gerissen, ihn hochgehoben und wie ein umgekehrtes Fass über das Volk gehalten, sodass es »unter dem Berg« stand.
Daraufhin soll Gott zum Volk gesagt haben: »Wenn ihr bereit seid, die Tora zu empfangen, ist es gut, doch wenn nicht, werde Ich euch unter diesem Berg begraben.« Mit dieser – natürlich bildlich zu verstehenden – Darstellung will der Midrasch ausdrücken, dass die Tora und ihre Gesetze dem jüdischen Volk aufgezwungen worden seien und dass es diese nicht freiwillig, sondern erst unter großem Druck angenommen habe.
Einklang Abgesehen davon, dass dieser Midrasch an sich problematisch ist, weil er den freien Willen des Menschen – ein Grundprinzip der Tora – infrage stellt, steht er in krassem Widerspruch zu der oben zitierten expliziten Aussage der Tora, das jüdische Volk habe die Tora vollkommen freiwillig akzeptiert. Wir stehen somit vor der Frage, wie der Midrasch zu verstehen sei und wie er mit der oben zitierten Tora-Stelle in Einklang gebracht werden kann.
Um den Widerspruch zwischen den beiden gegensätzlichen Aussagen aus dem Raum zu schaffen, nehmen wir eine prinzipielle Unterscheidung vor. Wir müssen differenzieren zwischen – einerseits – der generellen Bereitschaft des Volkes, die Tora zu empfangen, und – andererseits – der sich daraus ergebenden Beziehung des Volkes zu den einzelnen Vorschriften der Tora.
Das Volk hat am Berg Sinai eine generelle, vollkommen freie Entscheidung getroffen, die Tora und ihre Gesetze anzunehmen: Na’ase wenischma. Es hat sich bereit erklärt, die Tora als Ganzes zu akzeptieren. Aufgrund seiner Erlebnisse in Ägypten, beim Auszug von dort und am Berg Sinai hat das Volk ohne jeglichen Druck von außen den Entschluss gefasst, die Tora von Gott entgegenzunehmen.
Verpflichtung Da Gott aber sehr genau weiß, was in der Tora steht, und Er vorausgesehen hat, dass es dem Volk trotz seiner generellen Bereitschaft, die Tora zu akzeptieren, nicht leicht fallen wird, alle Gesetze der Tora zu befolgen, hat Er den Berg Sinai über sie gestülpt und ihnen erklärt: Die Tora ist ein »package deal«. Wer sich entscheidet, sie anzunehmen, nimmt damit die Verpflichtung auf sich, alle in ihr enthaltenen Vorschriften zu erfüllen.
»Wenn ihr euch dessen bewusst und dazu bereit seid, offenbare Ich euch hier die Tora und übergebe sie in eure Hände. Seid ihr aber nicht bereit, so hat eure Befreiung aus Ägypten ihr Ziel verfehlt, und Ich muss die Konsequenzen ziehen.« So gelingt es uns, den scheinbaren Widerspruch zwischen den gegensätzlichen Aussagen der Tora und ihrer Interpreten zu lösen.
Wenn wir an Simchat Tora mit der Tora in der Synagoge tanzen, halten wir das »Package« in der Hand. Wir haben die Gelegenheit, uns die in der Tora und von ihren Interpreten festgehaltenen Bedingungen des »Deals« vor Augen zu führen. Die Tora gibt uns die absolut freie Wahl, sie anzunehmen oder nicht. Doch wenn wir sie annehmen, sagt uns der Midrasch, unterziehen wir uns der Verpflichtung, alle ihre Gebote und Verbote zu akzeptieren und zu respektieren.