Zukunft

Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’

Ein Lied auf den Lippen, das die gemeinsame Identität stärkt: russisch-jüdische Kriegsveteranen am »Tag des Sieges« in Berlin Foto: Marco Limberg

Haasinu, Haschamajim, wa’Adabera!» – «Hört, ihr Himmel! Ich will reden!» Was für eine schöne Chutzpa! «WeTischma haAretz imre-Phi!» – «Und die Erde soll hören, was meine Lippen sagen!»
Mosche spricht – oder singt, oder rappt. Kapitel 32 des 5. Buches der Tora ist ein Gedicht, ein Lied, ein rhythmisches Rapping. Es ist kein schönes romantisches, ruhiges Abschiedslied. Mosche weiß – und auch Gott weiß es – alles was er in den vergangenen 40 Jahren aufgebaut hat, alles, was er erreicht hat, steht auf dem Spiel. Werden die Israeliten in Zukunft leben, wie sie sollen, oder wie sie wollen? Die Zeichen stehen schlecht. Die Erfahrung lehrt, dass sie ein eigenwilliges Volk sind.

Was kann er tun, um den schlimmsten Fall zu vermeiden, den totalen Untergang des Volkes? Gott warnt ihn sogar: Später, wenn er nicht mehr da sein wird, «wenn du bei deinen Vätern liegst» (31, 16-18), werden die Israeliten fremde Götter anbeten und den Bund brechen. Dann wird Gott nichts anderes übrig bleiben als das Volk zu bestrafen, und zwar hart. Derart schlimm, dass viele erschreckt sagen werden: «Es gibt keinen Gott, es kann keinen Gott geben, wenn die Welt so schlimm ist, wie sie ist!» Also, sagt Gott, soll Mosche ein Lied schreiben und es die Israeliten lehren. Damit es dem Volk eingeht und sie den Bund nicht vergessen, wird es gesummt. Musik und Reim bewirken mehr als trockene Wörter.

geleint Kann man auch die heutige Liturgie so verstehen? Wie viele Beter in unseren Synagogen sind in der Lage, eine Beracha zu summen, aber nicht zu rezitieren und gewiss nicht zu verstehen? Wie viele können Lecha Dodi oder Adon Olam singen, aber wissen nicht, was die Worte bedeuten? Viele verstehen wenig, aber ihnen gefallen die Melodien. Die Tora wird heutzutage geleint statt gelesen – aus ästhetischen, nicht aus pädagogischen Gründen. Ich selbst kann zwar keine Noten lesen, aber ich kann viele Lieder singen – wenn auch nur in Badewannenqualität. Ja, Musik berührt einen anderen Teil des Gehirns. Man trägt eine Melodie im Kopf, das ist wahr. Und wer sich an den jüngsten Fußballsommer erinnert, weiß, wie die Fans ihre Lieder lieben, wie ein Lied tausende Menschen zusammenhalten kann.

Am Anfang der Tora steht: «Bereschit bara Elohim et HaSchamajim we’et Ha’Aretz». Die Tora beschäftigt sich im Folgenden aber nur mit der Erde. Ab und zu kommt Gott und spricht hinab zur Erde: mit Adam und mit Kain, mit Enosch, Noach, Awraham oder Mosche. Jetzt, gegen Ende der Tora, singt Mosche wieder von Himmel und Erde. Man erkennt eine gewisse Symmetrie. Als ob es wichtig ist, einfach zu betonen: Es gibt beide, die Erde allein ist nicht genug. Wir sollen immer daran denken, dass es auch andere Dimensionen gibt, die wir nicht sehen können –aber die sind da. Vielleicht deswegen soll Mosche das Lied sowohl an Jehoschua als auch an die Leviten weitergeben. Denn Jehoschua wird das Volk weiterführen, und die Leviten sollen das Buch mit dem Lied ins Nationalarchiv stellen, in die Bundeslade, wo die wichtigsten Schriften des Volkes aufbewahrt werden (5. Buch Moses 31, 23-27).

Nostalgie Erst danach, in Kapitel 32, lesen wir das Lied selbst. Es schwankt zwischen Drohungen und dem Wunsch, geliebt zu werden. Es ist Gottes, nicht Mosches Nostalgie. Denk an die gute alte Zeit in der Wüste, als alles rein war. Es gab keine Korruption, keine Ablenkungen, sondern eine Vision, ein klares Ziel. Und zur gleichen Zeit, gab es immer wieder Ärger. «Bei diesen Kindern waltet keine Treue. Sie reizten mich durch einen Ungott, sie kränkten mich mit ihren Nichtigkeiten» (32, 20-21).

Gott spricht fast wie ein Vater, der sich an die Kindheit seiner erwachsenen Söhne und Töchter erinnert, an die Probleme und Teenager-Streitigkeiten, den Kampf um Werte. Es fällt ihm schwer, die Balance zwischen Gehorsam und Unabhängigkeit zu finden. Und doch sind es seine Kinder, und er liebt sie. Es ist interessant, dass wir, obwohl wir dieses Gedicht jedes Jahr lesen, die Nostalgie nicht teilen. Wir leben jetzt, wo auch immer das sein mag, in Städten oder auf dem Land – aber eben nicht mehr in der Wüste wie früher.

Auch im Islam gibt es Bestrebungen, zur «reinen Form» der Religion zurückzukehren. Die ersten Anhänger Mohammeds lebten in der Wüste, sie kannten keinen Luxus und nichts, was den Menschen verführen konnte. Viele möchten gern dorthin zurückkehren – zumindest theoretisch – und die ganze Kultur und Gesellschaft dorthinschaffen. Aber das ist nicht realistisch. Rückwärts kann man nie gehen, und eben das soll das Volk Israel lernen – damals in der Wüste genauso wie heute in den Gemeinden.

Das Lied endet mit Blut und Rache. Gott verlangt von seinem Volk, dass es seine Feinde vernichtet. Nur so werde Sühne für das Land erwirkt (32,43) – ein kontroverses Thema. Vielleicht ist es für viele besser, wenn sie nicht verstehen, was der Vorbeter in der Synagoge singt. Aber Mosche warnt uns: «Das sind keine leeren Worte für euch, sondern daran hängt eurer Leben» (32,47). Mosche selbst hat seinen Teil erledigt, jetzt wird es Zeit für ihn zu sterben. Er wird das Land nur aus der Ferne anschauen können. Aber die Israeliten mit Jehoschua, Gott, der Tora und jetzt auch mit einem Lied gerüstet – sie sollen weitergehen. Kadima! Vorwärts!

Der Autor ist Landesrabbiner der liberalen Gemeinden von Schleswig-Holstein.

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