Zuerst bemerkten wir ihn gar nicht. Der Vorbeter las die Pesukei Dezimra und murmelte jeweils die letzten Sätze halblaut. Die Zeit zwischen 9.00 und 9.30 Uhr samstags in der Synagoge ist wie das Einlaufen der Spieler vor dem Fußballmatch. Man blättert durch den Siddur und denkt an andere Dinge. Die Morgensonne klettert die hohen Glasfenster empor und wirft ihre Strahlen auf das Menschenhäufchen in der Synagoge.
Ich hörte es zweimal. Es klang wie ein Vogel, keine Frage. Ich schaute umher. Nichts. Ich werde alt, dachte ich mir und schaute meinen Nachbarn an, den mit dem Hörgerät. Aber wieder so ein Piepsen! Meine Augen irrten von einer Ecke der Synagoge zur anderen. Ich sah aus wie Meister Eder, der den unsichtbaren Pumuckl suchte.
Piepmatz Als wir dann leise das Schma sagten, hörten es alle. Ein Piepsen schallte durch die alten Gemäuer, und diesmal kam es nicht aus den heiseren Kehlen unseres altersschwachen Kantors. Nein, ein Vogel schwirrte über unsere Köpfe! Ein Vogel in der Synagoge! Er flatterte nervös herum und unterbrach unseren ehrwürdigen Rabbiner, als er die letzten Worte des Schmas sagen wollte. Ein kleiner Piepmatz! Wir konnten es nicht fassen. Wie kleine Kinder schauten wir nach oben.
Wir zeigten mit den Fingern auf den kleinen Vogel und amüsierten uns köstlich. Eigentlich darf man zwischen dem Schma und der Amida, den beiden wichtigsten Gebeten, nur dann reden, wenn man in Lebensgefahr ist. Aber wenn so ein süßer, kleiner Vogel herumschwirrt, dann – bitte! – darf man eine kleine Ausnahme machen. Da ich Lehrer bin und von allem eine Ahnung habe, lief ich durch die Bänke und erklärte den Betenden, dass es sich hier um einen Spatz, beziehungsweise um einen Sperling handelte.
Messias Der Vogel genoss die Aufmerksamkeit und zwitscherte eine Arie nach der anderen. Wir waren begeistert. Ein Frühlingshauch berührte uns sanft. Nochmals lief ich zu den Laien und erklärte ihnen, dass der Sperling jetzt balzt und wir ruhig sein müssten. Schade, fügte ich an, dass der jüdische Messias durch einen Esel eingeleitet wird und nicht durch einen Spatzen.
Wir warteten fünf Minuten und hofften, dass selbst bei einem Duracell-Spatzen irgendwann die Batterien leer werden. Doch der Vogel wollte nicht aufhören zu balzen. Wir öffneten die Fenster, um ihn endlich loszuwerden. Da wir aber Sicherheitsfenster haben, ließen sie sich nur leicht aufklappen.
10.30 Uhr. Noch immer hatten wir mit der Amida nicht begonnen. Ich rechnete nach: Selbst im besten Falle würde ich mit einer Viertelstunde Verspätung nach Hause kommen. Der beste Fall wäre der, dass dieser Scheißvogel plötzlich tot runterfallen würde.
Störquelle So wie ich dachten nun fast alle. Ich ging nochmals umher und bat die Leute, endlich weiterzumachen. Meine Frau hat für vieles Verständnis, nicht aber dafür, dass ich zu spät nach Hause komme. Auch der Rabbiner wusste nicht weiter. Der Spatz war gefangen. Einerseits muss man liturgische Störquellen ausschalten, andererseits darf man am Schabbat keine Tiere töten. Auch Schuhe werfen gilt nicht.
10.45 Uhr. Nun mussten wir weitermachen. Die nächsten zwei Stunden werden hart! Doch um 10.50 Uhr fand in Zürich plötzlich ein Wunder statt. Der Vorbeter begann vorzusingen. Mit aller Kraft und in allen unmöglichen Tonlagen. Der Vogel verstummte. Vor so einer Stimme hat ihn wahrscheinlich seine Vogelmutter gewarnt. Er hielt seine Klappe. Für geschlagene zwei Stunden! So lange nämlich schrie der Vorbeter die Gebete vor. Wir hörten ihm gebannt zu. Niemand im Saal machte an diesen Schabbat dumme Witze über die grässliche Stimme, niemand grinste doof.
Ich habe von diesem Vogel viel gelernt. Danke, Spatz!