Im dritten Kapitel von Megillat Esther – das jüdische Mädchen Esther war gerade zur »Miss Persien« gewählt worden – kommt der zweite Mann im Persischen Reich, Haman, mit einem skrupellosen Plan zum König Achaschwerosch: nämlich dem, das jüdische Volk zu vernichten.
Der König überlegt kurz und stimmt zu. Er gibt Haman seinen Ring und erteilt ihm die Erlaubnis, mit dem Volk nach seinem Belieben zu verfahren. Es werden königliche Schreiber herbeigerufen, und der Erlass Hamans wird aufgeschrieben: Alle Juden sollen an einem bestimmten durch ein Los gewählten Tag getötet werden – Männer, Frauen und Kinder. Das Edikt wird sofort in alle Regionen des großen Reiches gesandt.
Fastenzeit Mordechai, der all dies mitverfolgt, nimmt sofort Kontakt zu seiner Nichte, der Königin, auf: Sie soll zum König gehen und ihn anflehen, ihr Volk zu beschützen. Nach anfänglichem Zögern willigt Esther ein, zum König zu gehen, aber unter einer Bedingung: Alle Juden, die in der Hauptstadt leben, samt Mordechai, sollen drei Tage lang fasten und beten, damit die Audienz beim König erfolgreich ist. Nach Beendigung dieser dreitägigen Fastenzeit würde Esther dann versuchen, die Gunst des Königs zu gewinnen. Das Kapitel endet mit folgenden Worten: »Und Mordechai hat (das Gebot) übertreten und all das befolgt, was Esther von ihm verlangt hat.«
Welches Gebot hat denn Mordechai übertreten? Raschi erklärt uns, dass das Gespräch am Tag vor dem Pessachfest stattfand und somit die drei Fasttage auch die ersten drei Tage von Pessach waren. In den ersten zwei Nächten von Pessach ist es jedoch verboten zu fasten. Man muss Mazza essen, und dieses Gebot wurde somit übertreten.
Verdienst Mordechai war ein großer Richter und Toragelehrter, außerdem war er ein Prophet. Doch sein Verhalten scheint an dieser Stelle eher merkwürdig. Zu einem Zeitpunkt, da sich das jüdische Volk in großer Gefahr befindet, bedarf es der Verdienste. Das heißt, so viele Mizwot wie möglich sollten erfüllt werden.
So gibt es zum Beispiel die Meinung, dass man den Neumond vor Jom Kippur nicht segnen sollte, da man in dieser Zeit von Angst beziehungsweise Ehrfurcht erfüllt ist; für die Neumondsegnung müsse man jedoch fröhlich sein. Andere Gelehrte sagen, man sollte nichtsdestotrotz den Segen sprechen, da man jede Mizwa, die man erfüllen und die somit als Verdienst gutgeschrieben werden könne, auch vor dem Tag, an dem gerichtet wird, erfüllen solle.
Eine weitere Frage, die sich hier stellt, ist: Wozu die Eile? Bis zum Tag, an dem die Juden getötet werden sollten, ist es noch fast ein Jahr hin. Esther und Mordechai hätten also noch Zeit gehabt, ein gemeinschaftliches Fasten auszurufen. Sie hätten in diesem Fall, um das Problem nicht hinauszuschieben, sofort nach Pessach (also einige Tage später) mit dem Fasten beginnen können.
Doch sie tun dies nicht. Aus einem auf den ersten Blick unverständlichen Grund beschließen sie, an Tagen zu fasten, an denen es verboten ist, und auf die so sehr nötigen Verdienste zu verzichten. Stellen wir also die Frage noch einmal: War es wirklich so notwendig, während des Pessachfestes zu fasten, und wenn ja, was war der Grund dafür?
Weltkrieg Rabbiner Benzion Shafier antwortet auf diese Frage mit folgender Geschichte, die ein jüdischer Mann, nennen wir ihn Mosche, Raw Auerbach erzählt hat. Dieser Jude war ein Soldat während des Ersten Weltkriegs. Er erzählte, dass es immer eine bestimmte Zeitspanne gab, in der man auf den Feind schoss, und dann einige Minuten, in denen keiner schoss – Zeit, die Toten vom Schlachtfeld zu räumen. Danach wurde weitergeschossen. Mosche erzählte, dass im selben Schützengraben noch zwei weitere Juden waren. In den wenigen Minuten der Stille nahmen sie immer ein kleines Büchlein und lasen daraus.
Man konnte sehen, dass dieses Lesen ihnen viel Mut und Seelenruhe gab. Mosche, der verstand, dass es sich um ein religiöses Ritual handelte, fing an, seinen Vater dafür zu hassen, dass er ihn diese Sachen nicht gelehrt hatte. Voller Verzweiflung rief er in seinem Herzen zum Schöpfer der Welt: »G’tt! Wenn es Dich wirklich gibt, ich verspreche, wenn ich von dem Schlachtfeld lebendig zurückkehre, werde ich in eine Jeschiwa gehen und dort Deine Gesetze lernen.«
In den nächsten wenigen Sekunden traf ihn eine feindliche Kugel an seiner Hand. Von dem großen Schmerz wurde er ohnmächtig. Er wurde in ein Krankenhaus gebracht, später als kriegsuntauglich eingestuft und nach Hause geschickt.
Nun stand Mosche vor einem Dilemma: Einerseits hatte er gerade ein Wunder erlebt und wollte seinem Schwur treu bleiben und eine Jeschiwa aufsuchen. Andererseits blieben ihm gerade einmal drei Monate, um sein Universitätsstudium abzuschließen. Dann hätte er schon einen Beruf und könnte ungestört in der Jeschiwa lernen. Mosche entschied sich für die zweite Lösung, machte den Abschluss und ging, wie versprochen, in eine Jeschiwa. Doch wie sehr er sich auch anstrengte, das Lernen wollte nicht klappen. Seine Bemühungen, etwas zu verstehen, scheiterten, denn seine Motivation war nicht mehr dieselbe wie damals bei seinem Schwur.
Frust An Jom Kippur war er so frustriert, dass es ihm nicht einmal gelang, auf Hebräisch zu lesen. So klappte er sein Gebetsbuch zu und verließ die Synagoge. Ich bin mir sicher, sagte Mosche zu Raw Auerbach, dass ich viel mehr erreicht hätte, wäre ich gleich nach dem Erlebnis in die Jeschiwa gegangen. Die Motivation, die ich am Anfang verspürte, hätte mich sehr weit gebracht.
Kehren wir nun zurück zu unserer Geschichte. Mordechai wusste sehr gut, dass man so etwas wie Motivation nicht abkühlen lassen darf. Man muss sie sofort aufgreifen und handeln. Hätte man gewartet, bis Pessach vorbei ist, wäre es möglicherweise zu spät gewesen. Ja, tatsächlich wussten die Juden, dass ihr Leben gefährdet war. Und dennoch, die Angst hätte nachgelassen, die Eindrücke wären nicht mehr so frisch gewesen – und wer weiß, ob man es geschafft hätte, mit Gebeten den Spieß umzudrehen.
Das ist eine der großen Lektionen, die uns die Megillat Esther lehrt. Wenn man ein Bedürfnis verspürt, etwas Gutes zu tun, wenn man plötzlich die Motivation hat, etwas Großes zu vollbringen, soll man es nicht aufschieben, sondern direkt handeln. Dies sollte nicht als Aufforderung zum Übertreten von Geboten verstanden werden. Die Moral ist vielmehr die, dass man bestimmte Taten nicht aufschieben sollte, weil man sie nach einer gewissen Zeit nicht mehr oder nicht mehr so gut vollbringen kann.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.