Seit Mark Zuckerbergs Ankündigung vor einigen Wochen, 99 Prozent seines Vermögens – gut 41 Milliarden Euro – für wohltätige Zwecke spenden zu wollen, diskutieren Medien und Öffentlichkeit über die Motivation des Facebook-Chefs. Viel wurde darüber geschrieben, wie Zuckerberg mit dem Geld die Welt nach seinen Vorstellungen beeinflussen wolle, dass alles nur ein großer Marketing-Coup sei oder dass er nur sein Image aufbessern wolle, weil er in dem Film The Social Network (2010) als selbstsüchtiger, kalter Nerd dargestellt wurde und sich genau dieses Bild von Mark Zuckerberg seitdem hartnäckig hält. Ein uneigennütziges Verhalten zieht kaum jemand in Betracht. Wie viel Eigennutz oder Wunsch nach Selbstbestätigung aber steckt in der Bereitschaft, anderen zu helfen oder ihnen Gutes zu tun? Und was sagen unsere klassischen jüdischen Quellen dazu?
Uneigennützigkeit und Selbstlosigkeit sind Grundzüge der jüdischen Ethik und unentbehrliche Qualitäten jüdischer Führungspersönlichkeiten. Mosche oder Awraham beispielsweise waren bereit, alles für das jüdische Volk und dessen Zukunft zu tun und zu opfern. Unser eigenes Handeln soll diesen Vorbildern nacheifern. Tatsächlich finden sich in der rabbinischen Literatur Quellen, die ein hohes Maß an Selbstlosigkeit idealisieren – weit darüber hinaus, was die Mizwot von uns verlangen, und völlig ohne jeden Vorteil für uns.
Eseltreiber Eine Geschichte im Jerusalemer Talmud (Taanit 1,4) spricht über einen Mann, der erfolgreich um Regen gebetet hat. Die Rabbiner fragten nach seinem Beruf. Der Mann antwortete: Eseltreiber. Weiter erzählte er: Eines Tages sei eine weinende Frau zu ihm gekommen, um einen Esel zu mieten. Ihr Ehemann saß wegen Schulden im Gefängnis. Da schenkte der Mann dieser Frau den Esel, um ihren Mann freizukaufen. Die Rabbiner antworteten: »Du bist würdig zu beten und dass deine Gebete erhört werden.« Der Mann dieser Geschichte verhält sich altruistisch und geht ein Risiko ein, selbst zu verarmen, um zu verhindern, dass sich die Frau prostituieren muss, um das Geld für ihren Ehemann aufzubringen. Der Mann kann für sein Handeln nicht mit einer Belohnung rechnen – und tut es trotzdem.
Allerdings sind die Protagonisten mancher Geschichten weniger selbstlos, als es scheint. Im Babylonischen Talmud (Sanhedrin 43b) wird über Achan diskutiert, der bei der Eroberung des Landes Israel unter Jehoschua gesündigt hatte, weswegen die Israeliten eine Niederlage erleiden mussten (vgl. Jehoschua, Kapitel 7). Im Talmud heißt es: »Als er etwa zehn Ellen vor dem Ort der Steinigung war, sagten sie zu ihm, (dass er seine Sünde) bekennen (soll), denn das ist die Praxis derjenigen, die zum Tode verurteilt werden, dass sie (erst) gestehen, denn wer bekennt, der wird seinen Anteil in der kommenden Welt haben.«
So ist es auch im Fall von Achan. »Jehoschua sprach zu ihm: ›Mein Sohn, zolle dem Ewigen, dem G’tt Israels, Respekt und gib zu, was du getan hast.‹ (...) Da antwortete Achan Jehoschua und sprach: ›Wahrlich, ich habe mich versündiget an dem Ewigen, dem G’tt Israels und das ist, was ich getan habe.‹« (Jehoschua 7, 19–20) Auf den ersten Blick opferte sich Achan zum Wohle des Volkes und dessen spiritueller Verbindung zu G’tt. Ganz uneigennützig war sein Sündenbekenntnis allerdings nicht, denn immerhin sicherte er sich damit die Vergebung seines Vergehens.
Das zeigt, dass das die Ethik des Judentums nicht mit dem Altruismus deckungsgleich ist. Gerechtigkeit ist ein Grundpfeiler unserer Tradition, aber die Art und Weise, wie wir im jüdischen Sinne Gerechtigkeit erreichen sollen, unterscheidet sich vom altruistischen Konzept. Wenn es in der Tora (4. Buch Mose 19,18) heißt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, dann sollen wir den Nächsten eben lieben wie uns selbst – und nicht mehr als uns selbst. Völlige Selbstaufopferung ist dem Judentum fremd. Sie gibt es, wenn überhaupt, nur im Zusammenhang mit Kiddusch Haschem, der Heiligung des Namens G’ttes.
Schmitta Das zeigt sich beispielsweise bei den Schmitta-Jahren. Alle sieben beziehungsweise 50 Jahre werden Schulden erlassen, Knechte befreit und Grundbesitz zurückgegeben. Die jüdische Vorstellung von Gerechtigkeit ist, dass jeder von uns etwas besitzt und sich selbst damit versorgen kann. Jeder darf auch sehr gut von seiner Arbeit leben, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen – ganz im Gegenteil, wir sollen sogar ehrgeizig und erfolgreich sein. Sollten wir uns dann aber eben doch verschulden, stellt das System von Schmitta und Zedaka sicher, dass wir die Unterstützung haben, die wir brauchen, beziehungsweise nach einer gewissen Zeit die Schulden wieder erlassen werden.
Laut Maimonides’ »Acht Stufen der Wohltätigkeit« passt eigentlich nur die zweithöchste Stufe, das anonyme Spenden, direkt zum Altruismus. Allerdings ist es selbst dann keine ganz uneigennützige Tat, denn schließlich erfüllen wir damit eine Mizwa und erhalten eine Belohnung im spirituellen Sinne. Die Wohltätigkeit sollte generell 20 Prozent des Einkommens und eine einmalige Spende 20 Prozent unseres Vermögens nicht überschreiten. Schließlich soll der Spender nicht selbst arm werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Tradition eine Mischung aus Eigensinn und Altruismus favorisiert. Selbstverwirklichung und das persönliche Glück werden mit Anteilnahme und Solidarität mit den Schwachen verbunden. Auf diese Weise schafft das Judentum eine Synthese auf der Grundlage des Dienstes an der Gemeinschaft – oder wie Hillel es so treffend formuliert (Pirkej Awot 1,14): »Wenn ich nicht für mich bin, wer ist für mich? Und wenn ich (nur) für mich bin, was bin ich? Und wenn nicht jetzt, wann dann?« Nicht Egoismus auf Kosten der anderen, aber auch nicht Altruismus im Sinn der Selbstaufgabe, sondern persönliches Streben und Dienst an der Gesellschaft zusammen sind das Ideal des Judentums.
Der Autor war Rabbiner in Düsseldorf. Zurzeit arbeitet er als Research Fellow an einem Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds.