Paraschat Matot, dieses Jahr zusammen mit Paraschat Mass’ej gelesen, beginnt mit einem Abschnitt über Gelübde und Schwüre, der von der jüdischen Tradition viel diskutiert und sogar zum Ausgangspunkt eines Traktats im Talmud geworden ist: Masechet Nedarim in der Ordnung Naschim. Der Beginn dieses Abschnitts ist in mehrfacher Weise ungewöhnlich. Dies gilt schon für die Einleitung, denn Mosche spricht hier nicht wie sonst zum ganzen Volk, sondern nur zu den Häuptern der Stämme. Und auch die Formulierung »Dies ist das Wort, das der Ewige befohlen hat« ist betonter und ernsthafter als das gewöhnliche »Und Mosche redete zum Volk«. Ebenso merkwürdig ist auch der unmotiviert erscheinende Ort dieser Bestimmungen über Gelübde und Schwüre in der Tora zwischen dem Festkalender von Bamidbar 28-29 und dem Krieg gegen die Midianiter in Kapitel 31. Am merkwürdigsten aber ist, dass überhaupt gesagt werden muss, was doch selbstverständlich erscheint: »Wenn ein Mann dem Ewigen ein Gelübde ablegt oder schwört und sich zu etwas verpflichtet, so soll er sein Wort nicht brechen; alles, was er gesagt hat, muss er tun.«
Verpflichtung Was unterscheidet Gelübde und Schwüre von jeder anderen Aussage? Ist das Wort eines Menschen sonst weniger gültig und die Strafe für das Nichteinhalten von Versprechen sonst geringer? Eine Volksfrömmigkeit, die in ultraorthodoxen Kreisen aus Scheu vor versehentlichen Verpflichtungen in jeden zweiten Satz ein »Bli Neder« – »ohne Gelübde« – einflicht und die Rolle, die die Befreiung von unbedachten Gelübden und Schwüren in der Liturgie der Hohen Feiertage durch das Kol Nidre einnimmt, lässt diese Fragen gar nicht erst aufkommen.
Die wichtige Rolle, die das Thema Nedarim bis heute im Judentum einnimmt, lässt leicht übersehen, dass trotz der gewichtigen Einleitung keine besondere Strafandrohung vorliegt, während sonst schon aus unserer Sicht geringfügige Vergehen biblisch mit der Todesstrafe belegt, oder, wie in Dewarim 12 zu Nedarim, Versprechen bei Einhaltung der Bestimmungen gemacht werden.
erklärung Die einzige nicht mühsam herbeigedeutete Erklärung unseres Abschnitts liegt auf der Hand, wenn man den Satz »Wenn ein Mann ein Gelübde ablegt, … soll er sein Wort nicht brechen« als Einleitung, als Themenangabe für die folgenden 14 Verse versteht, die alle von Gelübden und Schwüren von Frauen handeln oder davon, wie diese ungültig gemacht werden können. Es ist ein hervorstechendes Phänomen der Rechtssatzungen der Tora, dass sie nicht wie unser heutiges Recht oder auch das altorientalische Recht der Nachbarvölker Israels beim allgemeinsten Fall einsteigen und sich systematisch durch die Einzelheiten bis zu den besonders seltenen und schwierigen Ausnahmefällen vorarbeiten, sondern meistens bei einem besonderen Nebenaspekt beginnen.
Wenn wir nun als das eigentliche Thema dieses Wochenabschnitts die Aufhebung von Gelübden und Schwüren von Frauen durch ihre Väter oder Ehemänner, bestimmen können, läge es nahe, diese Benachteiligung von Frauen zu beklagen. Aber schon der Talmud gibt sich alle Mühe, den Gelübden und Schwüren von Frauen die gleiche Verbindlichkeit zu geben wie den Gelübden von Männern. Er beschränkt das Recht von Vater und Ehemann – das dann auch von beiden ausgeübt werden muss, einer genügt nicht! –, die Gelübde und Schwüre ihrer Tochter oder Ehefrau ungültig zu machen, auf das halbe Jahr der eigentlichen Pubertät zwischen dem zwölften und 13. Lebensjahr. In dieser Zeit ist sie eine Ne’ara, nicht mehr Kind und noch nicht Frau.
Volksfrömmigkeit Nicht alle zu Beginn unserer Betrachtung aufgeführten Besonderheiten dieses Abschnitts sind damit erklärt. Mit den Stichwörtern Volksfrömmigkeit und Kol Nidre haben wir auf das Verhältnis von Amcha, dem jüdischen Volk, zum Thema Nedarim verwiesen. Die Autorität der rabbinischen Führungsschicht hatte und hat nicht nur konkret mit diesen Elementen der Volksfrömmigkeit ihre Probleme, sondern wird mit dem Thema Nedarim noch in viel grundsätzlicherer Weise infrage gestellt. Das Bestreben der meisten Autoritäten, vor dem Eingehen von Nedarim zu warnen, liegt – möglicherweise unbewusst – vor allem darin begründet, dass diese das halachische System zu sprengen drohen.
Von der Tora heißt es, sie sei nicht im Himmel (»lo ba-schamajim hi«), sondern den Menschen zur Auslegung überlassen, also den Rabbinen. Mit der Tempelzerstörung ist die Prophetie, die direkte Offenbarung Gottes an einzelne Menschen, an ein Ende gekommen. So sehr die Tradition aber auch versucht hat, Nedarim zu beschränken auf das, was halachisch sowieso zulässig ist, und etwa der Chassidismus sie als legitimes Mittel betrachtet, die Gebotserfüllung zu intensivieren, wird die jüdische Tradition immer wieder grundsätzlich infrage gestellt von den direkt an Gott gerichteten, Tradition und Autoritäten umgehenden Verpflichtungen durch Gelübde und Schwüre.
Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.