Schon wieder stehen die Mädels Schlange. Sie wollen ihn anfassen, abküssen, knuddeln. Sammy (18 Monate) ist das nicht anders gewohnt. Wenn er irgendwo auftaucht, wie heute bei seinem Auftritt in der Ma’aleh-Synagoge, geht es immer zu wie bei einem Beatles-Konzert, kreisch, kreisch.
Anders seine Zwillingsschwester Estelle: moppelig und meistens muffelig und schlecht gelaunt steht sie in ihrem etwas zu engen Organzakleidchen neben dem Kidduschbuffet und saugt am Papiertischtuch. Ich würde ihr ja so gerne auch so rauschende Auftritte verschaffen wie ihrem Bruder, ich habe ihr ein paar entzückende Tüllkleidchen besorgt, Haarschleifchen, und sogar eins von diesen französischen Parfums für Säuglinge. Trotzdem ist es immer nur Sammy, der in der Publikumsgunst steht, während für die arme Estelle noch nie ein Babysitter Überstunden gemacht hat.
Wohlbehagen Heute habe ich die beiden zum Kiddusch mitgeschleppt. Rabbi G. ist endlich zurück von seinem einjährigen Sabbatical auf Papua-Neuguinea (Feldforschung: primitive Kokos-Kidduschbecher bei den Insulanern) und kennt die Zwillinge noch gar nicht. Eben marschieren seine vier Töchter an mir vorbei. Eine trägt Sammy auf dem Arm, die andere stopft ihn mit Rogelach voll, die dritte knabbert an seinem Ohrläppchen, die vierte kitzelt ihn unterm Kinn. Sammy grunzt vor Wohlbehagen, ihm ist klar: Er braucht sich für den Rest seines Lebens frauentechnisch keinen Kopf zu machen.
Estelle zupft vorsichtig am Rock der ältesten Rabbinertochter, sie hätte auch gerne etwas Aufmerksamkeit. Aber keine Chance, die Mädels rauschen an ihr vorbei, um Sammy auf dem Servierwagen des koscheren Restaurants ein bisschen spazieren zu fahren. Frustriert wendet sich Estelle wieder dem Tischtuch zu. Ich nehme sie auf den Arm, um sie zu trösten. Seufzend vergräbt sie ihren Kopf in meinen Haaren, ich finde sie unwiderstehlich knuddelig, und sie riecht betörend nach ihrem französischen Babyparfum.
Schmerzensschrei Da erscheint endlich Rabbi G. auf der Bildfläche, um ganz zivilisiert den Kiddusch zu eröffnen, bevor sich die Meute auf die Lekachplatten stürzt. Er erblickt Sammy, der auf dem Servierwagen thront und sich mit Kuchen vollstopft, und nimmt ihn begeistert in die Arme. Nein, ist der süß! Und rothaarig! Und diese langen Wimpern! Sammy sonnt sich ein paar Minuten in seiner Gunst, dann reißt er Rabbi G. in Sekundenschnelle ein ganzes Büschel Barthaare aus und landet sodann eine schwungvolle Linke auf der Rabbinernase. Es folgt ein gellender Schmerzensschrei, Sammy übergibt sich vor lauter Schreck auf Rabbi G.s linkem Hosenbein und wird stante pede an die Töchterschar weitergereicht.
Da blickt der Rabbi an sich herunter: Neben ihm steht Estelle und putzt schüchtern mit einer Papierserviette an Rabbi G.s Hosenbein herum. Grinsend nimmt sie Rabbi G. auf den Arm. Estelle sieht endlich ihren großen Moment gekommen und startet ihre Charme-Offensive: Köpfchen schieflegen, mit den Augendeckeln klimpern: »Aloooom, Alooom«, gurgelt sie sodann. »Das heißt Schabbat Schalom«, dolmetsche ich. »Galla?«, äußert sich Estelle fragend. »Sie will Challa«, übersetze ich. »Was für ein intelligentes Kind, ein Genie, kenajnehore!« Rabbi G. ist begeistert.
Kostproben Sofort gruppieren sich die Rebbetzin und ihre Töchter um Estelle, die weitere Kostproben ihres Genies abgibt. »Alooo? Gallagalla? Hamham!«, zwitschert sie und ist für einige Minuten der erklärte Star dieses Kidduschs.
Sammy hat sich unter den Tisch verzogen und genießt die paar freien Minuten, die seine Groupies ihm gönnen, während er versonnen an einer Gurkenscheibe knabbert. Soll sich Estelle doch mal um Promotion und Public Relations kümmern. Dieser ewige Stress mit den Fans, das zehrt!