Für eine warme Mahlzeit würde ich im Moment meilenweit gehen. Seit Tagen bleibt bei uns die Küche kalt, Sandwiches sind angesagt, wir sind im Megastress und haben unsere Kreditkarten überstrapaziert. Wir essen sehr viel Cornflakes in letzter Zeit. Und billigen Joghurt. Da kommt die Einladung von Rabbi G. zu seinem sommerlichen Weekend-Retreat gerade recht.
Wir mögen diese Weekends. Erstens sind sie umsonst, zweitens ist die Hütte direkt am Meer, und drittens tauchen immer alle möglichen lustigen Freaks und schrägen Figuren auf, denn Rabbi G. hat, weil er auch als Studentenrabbiner arbeitet, ein Händchen im Umgang mit Spinnern jeglicher Couleur, egal ob mit roten oder grünen Haaren, mit Piercings oder naturbelassen.
abgedreht Als wir den Speisesaal betreten, hat sich bereits eine Auswahl der abgedrehtesten Freaks um das Büfett gruppiert und stopft sich mit glatt koscheren Keksen aus Antwerpen voll. Einer trägt eine Army-Camouflage-Kombination mit Kampfhelm und Springerstiefeln, ein anderer ist halbnackt bis auf ein überdimensionales Palästinensertuch, das er sich um die Hüften geschlungen hat. Die Rabbanit schaut besorgt. Das Wochenende verspricht interessant zu werden.
Da erblicke ich einige Freundinnen von mir, seltsamerweise ebenfalls im Freak-Outfit. »Hey Sandra«, sage ich, »was soll denn das Handtuch um deinen Kopf? Und Rita trägt einen bodenlangen Öko-Fummel, ist ja witzig.« Sandra und Rita drehen sich um und blicken mich giftig an. Das Grinsen gefriert mir im Gesicht. Beide halten einen Chabad-Siddur in der Hand und sind gerade schwer am Davenen. Huch, ich will nicht weiter stören.
»Was ist denn mit denen los?«, wispere ich meinem Mann Alain zu. Ich habe Sandra und Rita lange nicht gesehen, aber diese Komplett-Transformation trifft mich völlig überraschend. Neulich auf Facebook sahen die beiden noch völlig normal aus! Aber wahrscheinlich haben sie vor lauter Davenen keine Zeit mehr, ihr Profil regelmäßig upzudaten.
partyqueens Alain, der immer alles über jeden weiß, wispert zurück: »Sandra hat diesen superfrommen Typen aus einer Straßburger Jeschiwa kennengelernt. Rabbi G. hat ihn ihr vermittelt. Und Rita datet seinen Cousin.« Ach so, das erklärt natürlich, warum die beiden kettenrauchenden Partyqueens ihren Look so radikal geändert haben.
Missbilligend mustern die beiden meinen Rock (zu kurz!), meinen Ausschnitt (zu tief!) und den Rest (zu eng!). Ich muss schlucken. Von der anderen Seite des Raums werfen mir die Freaks abschätzig musternde Blicke zu. »Spießige Konform-Mutti«, sagen ihre Blicke. »Shoppst wohl im Benetton-Outlet? Oder sind das Burda-Schnittmuster?« Ich muss noch einmal schlucken und klammere mich an Alain. Gleich fange ich an zu heulen. Niemand liebt mich! Ich bin völlig fehl am Platz! Alain tätschelt beruhigend meinen Arm und schickt mich hoch in unser modriges Hotelzimmer, zum Auspacken und damit ich mich beruhige.
Als ich Stunden später, frisch gestylt und geschminkt – langer Rock, harmloses Oberteil, dezenter Lippenstift (Bloß nicht auffallen, heißt die Devise.) – die Treppe herunterkomme, ist die Party, sprich Kabbalat Schabbat, bereits in vollem Gange. Alain und zwei der grünhaarigen Freaks singen schunkelnd dreistimmige Smirot, Sandra und Rita halten strahlend zwei der 15 Kinder von Rabbi G. auf dem Schoß und genießen sichtlich die Atmosphäre.
Klops Die Rebbezin kommt mit einem Teller voll Gefilte Fisch. Sie weiß, dass ich am liebsten den Klops aus der Mitte esse und extra viel Kren. Außerdem stellt sie mir einen heißen Tee hin.
Ich fühle mich schon viel besser. Ist mir doch egal, ob der eine grünhaarige Freak der Sohn eines bekannten Rabbis und jetzt eben anders drauf ist, ist doch egal, ob Sandra und Rita irgendwann ihre Jeschiwe-Bochers heiraten und dann auch 15 Kinder kriegen werden. Wir sitzen hier alle beisammen, singen und amüsieren uns. Das ist das Einzige, was zählt. Und im schummrigen Kerzenlicht sehen die grünen Haare sogar ganz hübsch aus.