Seit Monaten steht die Welt Kopf, die Corona-Pandemie hat so manche Realität verändert. Es gibt kaum jemanden, der nicht betroffen wäre, da sich das Virus massiv auf lokale und globale Systeme auswirkt.
Zwar sind wir immer schnellere Veränderungen im 20. und 21. Jahrhundert gewohnt, doch der spürbare Kontrollverlust ist schwer hinzunehmen. Kaum etwas lässt sich planen. Anlässe, Veranstaltungen ebenso wie Reisen und Urlaub können jederzeit neuen Bestimmungen zum Opfer fallen.
Leider hat sich genau dies in Israel gezeigt: Ursprünglich Vorzeigestaat in Sachen Corona, mit frühem Verständnis der Gesamtsituation und entsprechend notwendigen Maßnahmen, steigen inzwischen die Zahlen der Infektionen, und wir erleben eine zweite Welle.
Lockerungen Manche Lockerungen wurden wieder aufgehoben. Doch das seit Monaten bestehende Einreiseverbot nach Israel wird sich auch über die so beliebt Sommerzeit erstrecken.
Für viele bedeutet dies, nach Pessach und der Frühlingszeit nun auch den Sommer über weit weg von den dort lebenden Verwandten und Freunden, aber auch von den touristischen Attraktionen, der speziellen Atmosphäre des Heiligen Landes und der Inspiration durch dessen heilige Stätten entfernt zu sein.
Das alles ist, zusätzlich zu der allgemeinen Situation mit den sich daraus ergebenden Komplikationen und Herausforderungen, höchst unerfreulich und kann frustrierend sein. Doch wie heißt es gerade in schwierigen Zeiten: Wir haben schon Pharao überstanden, wir werden auch das überstehen.
An dieser Stelle der Überlegungen drängt sich jedoch, gerade auch für religiöse Menschen, die Frage auf: Lässt sich der Situation auch etwas Positives abgewinnen?
Wer sagt uns, dass in jeder Situation auch Positives steckt? Dies bringen uns Nachum Isch Gamsu und dessen berühmter Schüler Rabbi Akiwa bei.
Von beiden heißt es, dass sie allem, was ihnen widerfuhr – und sei es auch noch so negativ –, stets mit der Aussage begegneten: »Gam su letova« – »Auch dies ist zum Guten« (Talmud Taanit 21a und Brachot 60b).
Nicht immer lässt sich dies erkennen, und nicht alle haben die Größe dieser beiden Gerechten, dies vorbehaltslos zu deklarieren, und doch fordert uns der Talmud mit diesen Vorbildern auf, ihrem Weg zu folgen und stets das Positive einer Situation zu suchen.
Was also kann einem generellen Einreiseverbot nach Israel (außer für Israelis und wenige Sonderfälle) Gutes abzugewinnen sein? Ich meine: Sehnsucht!
Sehnsucht ist ein oft unbewusst hervorgerufenes Gefühl, das die enorme Bedeutung einer Beziehung durch deren Abwesenheit emotional verdeutlicht und einem manchmal auch erst bewusst werden lässt.
Die Bedeutung und die positive Seite der Sehnsucht tritt in manchen Vorschriften und Bräuchen des Judentums zutage. So wird vor dem Pessachfest keine Mazza verzehrt, zumindest nicht am Vortag von Pessach. Und viele haben den Brauch, schon zwei Wochen oder gar einen Monat davor keine Mazza mehr zu essen.
Dies führt dazu, dass man am Sederabend das Gebot des Mazza-Essens mit besonderem Genuss befolgt. Die Zeit, in der keine Mazza gegessen werden konnte, ruft die Sehnsucht nach ihr hervor, welche die Freude und den Genuss beim Mazza-Essen steigert.
EHELEBEN Auch im Eheleben finden wir einen ähnlichen Ansatz: Die anfängliche Romantik und das gegenseitige Verlangen der Ehepartner drohen mit der Zeit, der alltäglichen Routine zu weichen. Dadurch, dass die Partnerschaft stets im vollen Umfang und Maße vorhanden ist, werden die Gefühle, die sie beflügeln und ihr ein wichtiger Motor sind, abgestumpft.
Das Konzept der Familienreinheit (Taharat Hamischpacha, die Nidda-Gesetze) stärkt die Romantik und gibt dem Verlangen eine sich stets erneuernde Grundlage. Ehemann und Ehefrau halten jeden Monat etwa zwölf Tage lang physischen Abstand voneinander. Dies verlangt ihnen oft ein großes Maß an Selbstbeherrschung ab.
Langfristig betrachtet bringen diese Vorschriften jedoch einen wunderbaren Nebeneffekt mit sich: Sehnsucht. Sehnsucht nacheinander und erneutes Verlangen füreinander, Gefühle, die für die emotionale Verbindung ein wesentliches, ja unverzichtbares Element sind. Nicht umsonst vergleichen unsere Weisen die Nacht des Untertauchens im Ritualbad, womit der physische Kontakt wieder zulässig wird, mit nichts Geringerem als der Hochzeitsnacht (Nidda 31b).
Sehnsucht wird also durch ein vorerst unerfülltes Verlangen hervorgerufen und führt bei erneutem Kontakt zu einem Erlebnis völlig anderer Intensität.
Lässt sich der Situation auch etwas Positives abgewinnen?
Ob nun von G’tt geplant oder nur als retroaktive Erfahrung, bringt das In-die-Ferne-Rücken von Israel einen ähnlichen Mehrwert mit sich: die Sehnsucht nach dem Heiligen Land!
Es ist diese Sehnsucht, die für die Rückkehr nach Israel nach 2000 Jahren Zerstreuung in der Diaspora von ganz entscheidender Bedeutung war!
Vordergründig war es der moderne Zionismus, der zur Gründung des Staates Israel führte, doch die Grundlage hierfür bildeten Jahrtausende der Sehnsucht nach der Rückkehr ins Heilige Land aus dem Exil, ins Land unserer Vorväter.
Diese Sehnsucht fand schon im babylonischen Exil Ausdruck in den Worten des Psalmisten: »An den Flüssen Babyloniens, da saßen und weinten wir, während wir an Zion dachten« (Psalm 137,1).
Auch in den täglichen Gebeten wird diese Sehnsucht formuliert: »… und versammle uns von den vier Ecken der Erde … und unsere Augen mögen schauen, wenn Du nach Zion in Erbarmen zurückkehrst« (aus dem Amida-Gebet).
So ist das jüdische Volk auch nach 2000 Jahren im Exil in sein ursprüngliches Land zurückgekehrt, und dies bereits zum zweiten Mal (zum ersten Mal mit der Schiwat Zion vom babylonischen Exil vor rund 2500 Jahren) – ein historisch einmaliger und außerordentlicher Vorgang.
FASTTAGE Wir befinden uns zwischen den beiden Fasttagen 17. Tamus und 9. Aw, an denen wir um die Zerstörung Jerusalems und der heiligen Tempel trauern. Im Talmud lesen wir: »Jeder, der um Jerusalem trauert, wird das Verdienst haben, seine Freude zu sehen« (Taanit 30b).
Bleibt eine Sehnsucht unerfüllt, weil die Beziehung etwa unterbrochen wurde und nicht mehr in gleicher Weise fortgesetzt werden kann, schlägt diese in Trauer um. Diese Trauer, so der Talmud, ist die Grundlage dafür, sich auch an der erhofften Freude am Wiederaufbau laben zu können.
In diesem Sinne schließt auch die Lesung der Megillat Ejcha, der Klagelieder, am 9. Aw mit dem Verlangen: »Führe uns zu Dir zurück, Ewiger, und wir kehren zurück, erneuere unsere Tage wie ehedem« (5,21).
Ist es nicht eine interessante Entwicklung, dass der Staat Israel aufgrund der Corona-Krise in nächster Zeit mehr Neueinwanderer erwartet? Und was kann derjenige tun, der nicht sofort daran denkt, die Koffer zu packen, seiner Sehnsucht nach Israel aber trotzdem folgen möchte?
Der Talmud (Makkot 24b) erzählt von den Weisen, die in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels am selben Ort vorbeigingen und mitansehen mussten, wie aus dem früheren Ort des Allerheiligsten ein Fuchs hervorkam.
Schande Die Weisen begannen zu weinen, nur Rabbi Akiwa lachte. »Warum lachst du, Rabbi Akiwa?« »Warum weint ihr?« »Wie können wir nicht weinen angesichts dieser offenen Schande!« »Aus demselben Grund lache ich: So wie sich die Prophetie von Uria Hakohen über die Zerstörung erfüllte, so wird sich auch die Prophetie Secharias erfüllen: ›Noch werden die Alten in den Straßen Jerusalems sitzen … und die Straßen füllen sich mit Jungen und Mädchen, die in den Straßen spielen‹« (8, 4–5).
Vor dem geistigen Auge Rabbi Akiwas erhoben sich Bilder von spielenden und lachenden Kindern in den Straßen des wiedererbauten Jerusalems, deren Realität in seiner Wahrnehmung ebenso echt war wie das erschütternde und traurige gegenwärtige Bild der Zerstörung.
Eine Familie aus unserer Gemeinde in Israel hat während des ersten Lockdowns beschlossen, die Großeltern in England zu besuchen. Obwohl es nicht einmal gestattet war, sich mehr als 100 Meter vom eigenen Haus zu entfernen – und an Flüge war schon gar nicht zu denken –, haben sie dies fertiggebracht! Aber wie?
Stuhlreihen Sie versahen den Korridor des Hauseingangs mit zwei Stuhlreihen und wiesen die Kinder an, sich wie in einem Flugzeug hinzusetzen. Der Vater war der Pilot, die Mutter die Stewardess (vielleicht war es auch umgekehrt,) und nach Erklärung der Sicherheitsvorschriften ging die virtuelle Reise los. Per Computer waren Luftbilder vom Meer und den Ländern zu sehen, über die sie flogen.
Selbstverständlich wurden Getränke und das übliche Bordmenü serviert, mit Rütteleffekt. Nach der Landung wurden sie feierlich im Wohnzimmer der Großeltern empfangen, die per Zoom zugeschaltet waren, und man freute sich über den spontanen Besuch bei Kaffee und Kuchen (für die Kinder gab es Süßigkeiten). Eine virtuelle Tour zu den Sehenswürdigkeiten Londons inklusive Reiseführer rundete den Besuch ab.
Ja, Not macht erfinderisch. Vielleicht inspiriert Sie diese originelle Idee zu einer virtuellen Reise nach Israel, einer Tour zu all den Sehenswürdigkeiten und einem Besuch bei all den Lieben, die in unserer Wahrnehmung gar nicht so weit entfernt sein müssen.
Der Autor ist Rabbiner in Israel.