Daten

Wellen der Zeit

Nach rabbinischer Auslegung fanden die Plagen im Monatsrhythmus statt – erst färbte sich der Nil blutrot, zehn Monate später starben die Erstgeborenen (Szene aus dem Film »Die zehn Gebote«). Foto: picture alliance /

Während des Auszugs der Israeliten aus der Sklaverei in Ägypten gab es zehn Plagen. Die letzte davon, der Tod der Erstgeborenen, fand laut der Tora in der Nacht vor dem Exodus, am 15. Nissan, statt: »Und zur Mitternacht (des 15. Nissan) schlug G’tt alle Erstgeburt in Ägypten vom ersten Sohn des Pharaos an, der auf seinem Thron saß, bis zum ersten Sohn des Gefangenen im Gefängnis« (2. Buch Mose 12,29).

Wann aber kam es zu den anderen neun Plagen? Die Tora gibt keine explizite Auskunft. Unsere Weisen lehren uns allerdings, dass sie alle in einem Monatsrhythmus stattfanden. Das bedeutet, dass, wenn die zehnte Plage am 15. Nissan stattfand, sich die neunte Plage am 15. Adar ereignen sollte, die achte Plage am 15. Schwat und die übrigen entsprechend davor. Was aber hat es mit diesen Daten genau auf sich?

Am 9. Aw ereigneten sich gleich drei große Katastrophen für das jüdische Volk.

Zwei Verse aus dem Tanach, die praktisch identisch sind, die allerdings mit einem zeitlichen Abstand von rund 800 Jahren geschrieben wurden und sich auf völlig unterschiedliche Situationen beziehen, können Aufschluss geben. Der erste davon schildert den Zustand der Israeliten während der neunten Plage, der Dunkelheit: »Bei allen Israeliten war Licht« (2. Buch Mose 10,23). Der zweite Vers beschreibt die Freude der Juden in der Stadt Schuschan, nachdem der böse Haman besiegt worden war: »Für die Juden aber war Licht« (Esther 8,16).

»Jude« und »Israelit«

Wenn wir bedenken, dass die beiden Worte »Jude« und »Israelit« Synonyme sind, so haben wir zweimal im Tanach praktisch denselben Vers. Im ersten Fall ist mit »Licht« wortwörtlich Licht gemeint, ganz bewusst als Gegensatz zu den Ägyptern formuliert, die in der Dunkelheit lebten. Im zweiten Fall ist »Licht« als Metapher für Freude zu verstehen – jene, die die Juden der Stadt Schuschan in Persien nach ihrem Sieg über ihre Feinde empfanden.

Ein genauerer Blick auf die Daten dieser Ereignisse lässt uns verstehen, dass nicht nur der Wortlaut eine Verbindung zwischen den Versen darstellt, sondern auch die Zeit. Schließlich ereigneten sich beide am 15. Adar – nur fand das eine Ereignis im 14. Jahrhundert vor der Zeitrechnung statt, das andere im 5. Jahrhundert vor der Zeitrechnung und damit mehr als 800 Jahre später, wohl aber am selben Datum. Die Tora offenbart uns hier, dass Ereignisse, die am selben Tag stattfinden, thematisch miteinander verbunden sind.

Ein weiteres prominentes Beispiel: Jedes Kind weiß, dass wir an Pessach Mazzot essen, da wir uns daran erinnern, dass die Israeliten am 15. Nissan Ägypten so schnell verlassen mussten, ihr Brot jedoch keine Zeit für den Säuerungsprozess hatte. So steht auch wörtlich in der Tora: »Und sie (die Kinder Israels) backten (…) ungesäuerte Brote (Mazza), die Brote waren nicht gesäuert, weil sie aus Ägypten weggetrieben wurden und sich nicht länger aufhalten konnten« (2. Buch Mose 12,39).

Die gesamte Erklärung wird allerdings auf den Kopf gestellt, wenn wir uns vor Augen halten, dass Lot mit den Engeln, die nach Sodom kamen, gemeinsam Mazzot aß (1. Buch Mose 19,3). Der mittelalterliche Kommentator Raschi sagt zu diesem Vers explizit, dass Lot und die Engel Mazzot aßen, da es das Datum war, an dem künftig Pessach sein sollte.

Datum und Ereignis

Zur Erinnerung: An Pessach wird der Auszug aus Ägypten gefeiert, der sich im 14. Jahrhundert vor der Zeitrechnung ereignete. Die Zerstörung Sodoms ereignete sich allerdings 400 Jahre zuvor, und das auch noch lange, bevor die Israeliten sich überhaupt in Ägypten befinden sollten. Die Botschaft ist damit klar. Nicht das Ereignis selbst sorgt dafür, dass wir uns an ein bestimmtes Datum erinnern, sondern das Datum sorgt dafür, dass ein Ereignis herbeigeführt wird.

So war Lot ein Mann G’ttes und nahm die Energie des Tages wahr, noch bevor sich an diesem das historische Ereignis des Exodus überhaupt ereignete. Daher aß er bereits Mazzot. Beispiele für dieses Phänomen in der jüdischen Geschichte gibt es einige: Wir fasten am 9. Aw, weil an diesem Tag der Zweite Tempel zerstört wurde. An diesem Tag aber war bereits der Erste Tempel vernichtet worden. Es ist auch der Tag, an dem die Kundschafter rebellierten und an dem das Volk Israel sich gegen den Einzug ins Land Israel wehrte, was wiederum zur Verlängerung der Wüstenwanderung führte.

Wenn der Nissan für die große Erlösung aus Ägypten stand, wird er auch künftig für Erlösung stehen.

Ist es also ein Zufall, dass drei der größten Katastrophen unserer Geschichte am selben Datum stattfanden? Nein! Das Datum beeinflusst die Ereignisse, die an ihm geschehen. So wie der 9. Aw eine Energie der Herausforderung mit sich bringt, ist es beim 15. Adar eine Energie des Lichts und der Freude, und beim 15. Nissan ist es die Energie der Freiheit. Deswegen lehrt der Talmud (Rosch Haschana 11a) auch: »Im Nissan (an Pessach) verließen unsere Vorfahren Ägypten – im Nissan werden wir künftig vom Maschiach erlöst werden.«

Das Datum beeinflusst das Geschehen. Wenn der Nissan für die große Erlösung aus Ägypten stand, wird er auch künftig für Erlösung stehen. Im Übrigen lehrt der Talmud auch, dass ein Ortswechsel das Schicksal eines Menschen mitbestimmen kann (Rosch Haschana 16b). So wie ein Datum die Dinge, die an ihm passieren, beeinflusst, so beeinflusst auch ein physischer Ort das Geschehen. Die Halacha, das jüdische Religionsgesetz, lehrt uns, quasi auf diesen Wellen der Zeit zu reiten. Denn »zur richtigen Zeit am richtigen Ort« zu sein, ist eben das, was die halachischen Regeln beabsichtigen.

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