Rabbiner Lord Jonathan Sacks, der am 7. November (20. Cheschwan) 2020 in London starb, war ein Mann, der überall betrauert wurde, wo man jüdisches Denken zu schätzen weiß. Sacks wurde auch von Nichtjuden sehr geschätzt, weil es ihm scheinbar mühelos gelang, zentrale Probleme unserer Zeit zu erhellen und geeignete Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Kunstvoll verknüpfte er philosophische Gedanken mit Quellen des Judentums.
Rechtzeitig zur ersten Jahrzeit hat der britische Gemeindeverband »United Synagogue« ein schönes Gedenkbuch herausgebracht, das Leben und Werk von Sacks stichwortartig würdigt. Fast 100 Männer und Frauen – Mitarbeiter, Kollegen und Bekannte – haben kurze Texte verfasst, um die Eigenart des Meisters sowie seine Leitlinien zu charakterisieren.
Erinnerungen an hilfreiche Handlungen sowie Analysen einiger Ideen, die der Religionsphilosoph vertreten hat, werden durch zahlreiche farbige Fotos von Sacks ergänzt; sie zeigen den oft strahlenden Chief Rabbi bei feierlichen Gemeindeveranstaltungen und auch bei Begegnungen mit prominenten Politikern und religiösen Persönlichkeiten. Die vorliegende Veröffentlichung hätte Sacks sicher gut gefallen; die Witwe, Lady Elaine Sacks, dankt allen Mitwirkenden in ihrem knapp gehaltenen Vorwort.
ERZIEHUNG Unterstrichen wird, dass die Stärkung der jüdischen Erziehung Sacks außerordentlich wichtig war: Als er 1991 das Amt des Oberrabbiners von Großbritannien antrat, besuchten ungefähr 25 Prozent der jüdischen Kinder in England eine jüdische Schule; als er 2013 aus dem Amt schied, war die Zahl auf 70 Prozent gestiegen!
Dass Sacks eine große Menge Energie hatte und unermüdlich arbeitete, beschreiben seine drei Kinder sehr anschaulich; seinen glänzenden Reden merkte man die Mühe beim Verfassen nicht an. Der Vater beriet sich mit dem Sohn und den Töchtern sogar, als sie noch jung waren. In den Sprüchen der Väter (4,1) heißt es: »Ben Soma sagt: Wer ist weise? Der von jedem Menschen lernt!« Ben Somas Maxime hat Sacks tagtäglich praktiziert. Jede Begegnung war für ihn ein Lernprozess. Das tägliche Lesepensum hatte eine ähnliche Funktion. Die vielen Bücher des Autors beweisen eine Belesenheit, die beeindruckend ist.
Seine Veröffentlichungen, die exegetische und philosophische Untersuchungen zusammenfassen, wird man sicher noch viele Jahre nach dem Tod des Verfassers studieren. Mehrere Bände hat man ins Hebräische übersetzt, bisher zwei auch ins Deutsche übertragen. Im vorliegenden Erinnerungsbuch werden die Werke von Sacks auf jeweils zwei bis drei Seiten besprochen.
Solche Kurzreferate können die Lektüre wohldurchdachter Traktate natürlich nicht ersetzen, aber sie vermitteln zumindest einen Eindruck von den verschiedenen Fragen, die Sacks behandelt hat.
GLAUBENSHALTUNG Im letzten Teil der Neuerscheinung stehen einige Abschnitte aus den Schriften von Sacks. In einem Text geht es um die Glaubenshaltung der United Synagogue; die Prinzipien, die Sacks darstellt, sind Kennzeichen der modernen Orthodoxie. Die Kolumne »Warum ich ein Jude bin« ist mehr als nur ein persönliches Bekenntnis; aufmerksame Leser können diesen Ausführungen entnehmen, welche Argumente in unseren Tagen überzeugend sind.
Lehrreich und nützlich sind etliche Merksätze, die Sacks formuliert hat. Wie etwa: »Suche immer die Freundschaft derjenigen, die dort stark sind, wo du schwach bist. Niemand von uns verfügt über alle Vorzüge.
Sogar ein Moses benötigte einen Aharon! Die Leistung beim Zusammenwirken eines Teams von Menschen, die verschieden begabt sind und eine andere Sicht auf die Dinge haben, ist stets größer als die Leistung, die ein Einzelner alleine vollbringen kann.«
Fast gleichzeitig mit der Sacks-Gedenkschrift ist übrigens ein neues Buch des vor einem Jahr Verstorbenen erschienen. Der Titel des Sammelbandes lautet: The Power of Ideas: Words of Faith and Wisdom; er enthält Reden im House of Lords, Rundfunkansprachen und Zeitungsartikel. Kein Geringerer als der britische Thronfolger Prinz Charles empfiehlt in seinem Vorwort die Beschäftigung mit den informativen und inspirierenden Beiträgen von Rabbi Sacks.
United Synagogue (Hrsg.): »Rabbi Sacks And The Community We Built Together«. London 2021, 256 S., 15,99 £