Lebenssinn

Wege zum Glück

Weniger verkniffen lebt es sich besser: jüdisches Smiley-T-Shirt Foto: Fotolia, (M) Frank Albinus

Darf ich vorstellen: Alvin Wong, laut New York Times der glücklichste Mann Amerikas. Zu diesem Ergebnis kam die Times in einer Analyse des »Well-Being Index« von Gallup-Healthways, für den Interviews mit 372.000 Amerikanern ausgewertet wurden. Gallup hat aus den Antworten das Bild des glücklichsten Amerikaners montiert: Er ist ein bisschen größer als der Durchschnitt, Asiate, gläubiger Jude, über 65 Jahre alt, verheiratet und hat Kinder, wohnt in Hawaii und verfügt über ein Einkommen von mehr als 120.000 Dollar im Jahr. Der Times gelang es, einen Menschen zu finden, der dieser Vorlage exakt entspricht: Alvin Wong, orthodoxer Konvertit.

Im März erschien im Wall Street Journal ein Artikel von Shirley Wang mit dem Titel »Wird Glück überbewertet?«, der die neues-
te Forschung über das Wohlbefinden zum Thema hat und helfen kann, das Glück von Alvin Wong zu erklären. Forscher unterscheiden zwischen dem, was man »hedonistisches Wohlbefinden« nennen könnte, und dem, was Aristoteles als »Eudämonie« bezeichnet.

Wohlbefinden Gefühle von hedonistischem Wohlbefinden neigen dazu, kurzlebig und flüchtig zu sein – eine gute Mahlzeit, ein unterhaltsamer Film, ein wichtiger Sieg des eigenen Fußballteams –, das heißt, all das, worunter wir im Allgemeinen »Spaß« verstehen. Im Gegensatz dazu bezeichnet Eudämonie einen Daseinszustand – nicht bestimmte Ereignisse – und ist eher längerfristig und stetig angelegt. Aristoteles beschreibt diesen Zustand als das Ergebnis der Verwirklichung des eigenen Potenzials. Und die moderne Forschung betont Faktoren wie Selbstverwirklichung und Lebenssinn.

Aktivitäten, die in einem Menschen das stärkste Gefühl von Selbstverwirklichung und Lebensinhalt wecken – zum Beispiel Arbeit, die als Herausforderung empfunden wird, aber auch als wertvoll an sich gilt –, werden häufig nicht als die angenehmsten empfunden. »Manchmal ist das, was wirklich wichtig ist (für unser Wohlbefinden), einem kurzzeitigen Glück nicht zuträglich«, sagt Carol Ryff, Direktorin des Instituts für Altersforschung an der Universität von Wisconsin.

Sie nennt Kindererziehung, ehrenamtliche Arbeit und ein Medizinstudium als Beispiele für Aktivitäten, die vielleicht keinen Spaß machen, aber einen Beitrag leisten zu einem länger andauernden Gefühl des Wohlbefindens. Das erklärt, weshalb kinderlose Paare sich oft als glücklicher beschreiben als Paare mit Kindern. Doch wenn es um allgemeines Wohlbefinden geht, sind Kinder ein entscheidender Bestandteil.

Trend Eine 2010 veröffentlichte statistische Auswertung in der Clinical Psychology Review kommt zu dem Schluss, dass zwischen 1938 und 2007 jeder Jahrgang amerikanischer Collegestudenten ein höheres Niveau an Depressionen, Paranoia und Psychopathologie meldete als der vorangegangene. Dieser Trend, merken die Verfasser an, geht Hand in Hand mit einer immer stärkeren Betonung von materiellem Reichtum und dem damit verbundenen Status.

Entsprechend ging die Bedeutung, die der Vorstellung von Gemeinschaft und Lebenssinn zugeschrieben wird, immer mehr zurück. Zudem setzte sich in den vergangenen 30 Jahren im Erziehungswesen eine auf das Selbstgefühl bauende Richtung durch, deren Wirkung auf die schulischen Resultate gering ist; umso mehr aber trug sie zu dem übersteigerten Narzissmus unter amerikanischen Collegestudenten bei.

Eine Reihe von neuen epidemiologischen Studien belegt die Vorteile von Eudämonie. David Bennett, Direktor des Alzheimer’s Disease Research Center am Rush Medical Center in Chicago, führte auf der Basis von rund 1.000 älteren Probanden (Durchschnittsalter: 80) eine Untersuchung durch. Bei den Teilnehmern, für die der Lebenssinn eine größere Rolle spielte, war die Wahrscheinlichkeit, an Alzheimer zu erkranken, 50 Prozent geringer; die Wahrscheinlichkeit, in den nächsten fünf Jahren zu sterben, war um 57 Prozent niedriger.

Ryff leitet eine Studie, die seit 1995 das Leben von 7.000 Menschen vom mittleren bis ins hohe Alter verfolgt. Ihre Ergebnisse zeigen, dass das eudämonische Wohlbefinden die Wirkung anderer bekannter Risikofaktoren reduziert. Es wird mit einem niedrigeren Wert von Interleukin-6 in Zusammenhang gebracht, einem Entzündungsmarker, der auf Herz-Kreislauf-Probleme, Osteoporose und Alzheimer verweist.

Ehre Unsere Weisen sagen: »Die Ehre flieht den, der ihr nachjagt; die Ehre sucht den, der sie flieht.« Das ständige Bedürfnis nach Bestätigung und Ehrerweisung durch andere hat etwas Armseliges und Leeres, sodass das Streben nach Ehre uns letztendlich in den Augen der anderen herabmindert. Derjenige aber, der sich nichts aus Ehre macht, gewinnt die höchste Art von Ehre – Selbstachtung – und so nach und nach auch die Achtung der anderen.

Und so ist es auch mit dem Glück: Wem das Glück als Ziel des Lebens gilt, für den rückt es in immer weitere Ferne. Die gedeihlichste Art des Glücks, Eudämonie, ist das Ergebnis eines gut gelebten Lebens, nicht sein Ziel.

Glück als Ziel, erläutert Ryff, wird zu einer seelischen Bürde, wenn Menschen dauernd besorgt sind, ob sie wohl ausreichend Spaß und Freude haben. Hedonistische Aktivitäten bestehen hauptsächlich aus Augenblicken, in denen die Nervenenden gekitzelt werden. Die Zeitspanne zwischen den Augenblicken des sinnlichen Rausches ist immer länger als die Augenblicke des Rausches selbst. Und daher wird ein Leben, zugebracht mit der Suche nach solchen Augenblicken, immer eine negative Bilanz haben, wie eine unendliche Schleife, in der man immer wieder 20 Minuten in der Schlange darauf wartet, 30 Sekunden Achterbahn fahren zu dürfen.

Lebenssinn Jetzt können wir beginnen zu verstehen, woraus das Glück von Alvin Wong – dem asiatisch orthodoxen Juden – bestand. Die positive Seite der asiatischen Kultur, die in erschreckenden Einzelheiten von Professor Amy Chua (»Tigermutter«) karikiert wurde, ist die Betonung auf Disziplin beim Streben nach langfristigen Zielen, statt Augenblicksbedürfnisse zu befriedigen.

Das Letzte, was die Kinder von Frau Chua zu hören bekommen, sind Aussagen, die ihr zerbrechliches Selbstwertgefühl stärken und nicht mit tatsächlichen Anstrengungen und Leistungen verbunden sind. Die asiatische Kultur steht in krassem Gegensatz zum herrschenden westlichen Narzissmus.

Aber es ist die Religion, die das entscheidende Element des Lebenssinns bringt. Die Gallup-Untersuchung ergab, dass religiöse Menschen auf der Wohlfühlskala weiter oben stehen, und den obersten Platz davon nehmen religiöse Juden ein. Eine Tora-Erziehung betont unermüdlich die Gemeinschaft und die Pflichten eines Menschen gegenüber anderen und gegenüber der Gemeinschaft als Ganzes, nicht seine Rechte als Individuum. Ein erfülltes jüdisches Leben kann nicht isoliert, nur im Rahmen der Gemeinschaft geführt werden.

Die Struktur des Tora-Lebens stärkt fortwährend den Sinn und Zweck eines Lebens und das Gespür dafür. Eine der Kernaussagen unserer Erziehung ist, dass jede einzelne Tat mit kosmischer Bedeutung erfüllt ist. Mit jeder ausgeführten Mizwa, jedem Akt von Chesed, öffnen wir die Kanäle, über die der göttliche Segen in die Welt kommt.

Doch wenn wir nicht das jedem Augenblick innewohnende Potenzial nutzen, drehen wir die Hähne des Segens zu. Jedes jüdische Kind muss auch lernen, dass er oder sie eine einzigartige Rolle im göttlichen Plan spielt – weil niemand in identische Verhältnisse hineingeboren wird, mit den gleichen Fähigkeiten ausgestattet ist oder den gleichen Herausforderungen, seien sie interner oder externer Art, begegnen wird.

Potenzial Der Artikel über Wang macht auch klar, weshalb die israelische Gesellschaft in vielerlei Hinsicht die gesündeste Gesellschaft der westlichen Welt geblieben ist – mit einer niedrigen Selbstmordrate, hohen Geburtenrate und der Bereitschaft, das Land zu verteidigen.

Die Armee trägt nicht nur zum phänomenalen erfinderischen Potenzial Israels bei, das von Saul Singer und Dan Senor in ihrem Buch Start-Up Nation ausführlich beschrieben wird, sie weckt auch einen Idealismus, der sonst weitgehend fehlt – die Bereitschaft, sein Leben für etwas zu riskieren, das jenseits der eigenen Person liegt, Orientierung an einer Mission, Verantwortung für die Kameraden und Abhängigkeit von ihnen.

Neulich geriet ein Freund von mir in eine Telefonumfrage, die unter den Mitgliedern eines bestimmten Altersvorsorgeplans durchgeführt wurde. Der Interviewer stellte Fragen in Bezug auf seine körperliche und emotionale Gesundheit: »Haben Sie Schwierigkeiten, Gegenstände vom Fußboden aufzuheben? Leiden Sie unter Depressionen? Haben Sie häufiger Langeweile?«

Die letzte Frage bezog sich auf Religion, und mein Freund sollte sich selbst in eine Frömmigkeitskategorie einordnen. Statt zu antworten, schlug er dem Berater vor, es zu erraten. Bis dahin war das Thema Religion oder Frömmigkeit in dem Interview in keiner Weise angeschnitten worden. Doch der Interviewer riet richtig und antwortete, mein Freund müsse »dati oder haredi« sein.

Optimismus Mein Freund fragte ihn, wie er es denn erraten habe, und der Mann antwortete: »Nun, Sie scheinen ein ziemlich optimistischer Mensch zu sein. Meiner Meinung nach sind religiöse Menschen generell optimistischer.« Und wa-
rum auch nicht. In einem Alter, in dem viele Schwierigkeiten haben, vom Stuhl aufzustehen, arbeitet er sechs Monate pro Jahr, macht jeden Morgen einen Spaziergang, und in der Zeit, in der er nicht arbeitet, verbringt er den größten Teil des Tages damit, zusammen mit einem Studienpartner zu lernen.

Abends unterrichtet er Jungen aus zerrütteten Familien. Und er blickt freudig und erwartungsvoll in die Zukunft, wenn seine Enkelkinder heiraten und Urenkelkinder geboren werden. Das Einzige, was ihm im Vergleich zu Alvin Wong fehlt, ist der asiatische Hintergrund und, so vermute ich, ein Einkommen von 120.000 Dollar im Jahr.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von www.jewishmediaresources.com.

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