Die drei Wochen, die mit dem 17. Tamus beginnen und mit dem Fastentag am 9. Aw (Tischa beAw) enden, heißen »Ben-hamezarim« (Tage inmitten der Bedrängnis) – nach den Worten im Buch der Klagelieder, die am 9. Tag des Monats verlesen werden: »Alle ihre Verfolger holten sie ein mitten in der Bedrängnis« (Echa 1,3).
Vorausgegangen war die Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar, den König von Babylonien. Am 17. Tamus wurde eine Bresche in die Mauern Jerusalems geschlagen, mit der die Zerstörung der Stadt begann. Ihren traurigen Höhepunkt erreichte sie drei Wochen später am 9. Aw, als der Tempel zerstört und verbrannt wurde.
Um uns an diese Ereignisse zu erinnern, gibt es verschiedene Trauervorschriften für die Zeit zwischen dem 17. Tamus und Tischa beAw. Zum Teil unterscheiden sie sich in ihrer Ausprägung und Gestaltung von Gemeinde zu Gemeinde.
Am 17. Tamus fastet man von morgens bis abends, nicht 25 Stunden wie an Jom Kippur.
Grundsätzlich kann festgehalten werden: Am 17. Tamus fastet man von morgens bis abends. An Tischa beAw beginnt das Fasten jedoch schon am Abend des Vortages und endet am Abend des 9. Aw – eine Praxis, wie sie auch zu Jom Kippur ausgeübt wird.
Und so gleicht Tischa beAw in seiner Strenge dem Versöhnungstag. In aschkenasischen Gemeinden feiert man keine Hochzeiten, geht nicht zum Friseur und rasiert sich nicht. Auch musiziert man in dieser Zeit nicht und geht nicht aus, um sich zu vergnügen.
Verzicht Auch die Sefardim praktizieren diese Bräuche. Zusätzlich verzichten sie zwischen dem 1. und dem 9. Aw – manche sogar während des ganzen Monats – auf den Verzehr von Fleisch und Wein während der Wochentage.
Der Schabbat als Freudentag aber bleibt von diesen Trauervorschriften unberührt. Auf den Genuss von Fleisch und Wein zu verzichten, soll daran erinnern, dass man nach der Zerstörung des Tempels, inklusive seines Altars, keine Möglichkeit mehr hatte, Schlacht- und Weinopfer darzubringen.
Die Vorschriften für alle hier genannten Gedenk- und Trauertage dienen zunächst dazu, sich der Katastrophe und des Verlustes vorangegangener selbstbestimmter jüdischer Geschichte zu erinnern, am Ende aber dazu, für die künftige Erlösung des Volkes Israel zu beten und zu wirken.
Erinnerung ist der Schlüssel für die Zukunft des Volkes Israel.
Der 17. Tamus wird im Gedenken an den zweifachen Abriss der Jerusalemer Stadtmauer begangen, zuerst durch Nebukadnezar im Jahr 586 v.d.Z., danach durch den Römer Titus im Jahr 70, drei Wochen vor der Zerstörung des Zweiten Tempels am 9. Aw, an dem schon – der Überlieferung nach – der Erste Tempel in Schutt und Asche gelegt wurde.
10. Tewet Neben diesen beiden gibt es zwei weitere Fasttage wegen der Zerstörung des Tempels. Am 10. Tewet begann der König von Babylonien, Jerusalem zu belagern. In der Rückschau auf dieses Ereignis prophezeit Sacharja: »So spricht der Ewige: Das Fasten des vierten, fünften, siebten und zehnten Monats soll dem Hause Juda zur Freude und Wonne und zu fröhlichen Festzeiten werden« (8,19).
Die Nennung des Zehnten bezieht sich nicht auf den zehnten Tag des Monats Tewet, sondern auf den Monat selbst. Der Tewet ist der zehnte Monat des jüdischen Kalenders, da nach dem 2. Buch Mose mit dem Nissan das jüdische Jahr anfängt: »Dieser Monat soll für euch das Haupt der Monate sein, er sei euch der erste von den Monaten des Jahres!« (12,2).
Dem Gedenktag des 17. Tamus entspricht laut dem Propheten Sacharja das Fasten des vierten Monats, den wir nach dem Jahresbeginn mit dem Nissan zählen, das Fasten am 9. Aw entspricht dem des fünften Monats.
Gedalja Beim vierten Gedenktag, dem Fasten des siebten Monats, handelt es sich um das Fasten Gedaljas, das auch der Erinnerung an die Zerstörung des Tempels dient. Es folgt dem Neujahrstag und fällt somit auf den 3. Tischri.
An diesem Tag kam Gedalja ben Achikam zu Tode. Ihn hatte der König von Babylonien über jene Juden eingesetzt, die nach der Zerstörung des Ersten Tempels und dem babylonischen Exil im Land Israel geblieben waren. Er wurde nach nur zweimonatiger Amtszeit von Ismael ben Netanja ermordet.
Das Fasten muss im Geist von Wahrheit und Frieden stattfinden, damit es einen Wandel bringt.
Daraufhin wurden auch die letzten Reste der jüdischen Unabhängigkeit im Land Israel abgeschafft. Die übrigen Juden, darunter auch der Prophet Jeremia, flohen aus Juda nach Ägypten.
Es ist nicht von der Hand zu weisen: Die historischen Fastentage rufen schlimme Erinnerungen wach. Sie öffnen aber zugleich ein Fenster in die Zukunft. So geht die jüdische Tradition auf heilende Weise mit dem Leid um.
Lebenserneuerung Die klassische jüdische Reaktion auf Katastrophen ist Lebenserneuerung. Es gehört zur Wesensart des Volkes Israel, das Andenken an seine Erfolgs- wie seine Leidensgeschichte zu bewahren, um daraus Hoffnung für die Zukunft zu entwickeln.
Man könnte zugespitzt sagen: Israels Zurückdenken bringt es nach vorne. Erinnerung ist der Schlüssel für die Zukunft des Volkes Israel. Wie die Erprobung stattfand, so wird auch die Erlösung geschehen.
Die vergangenen Katastrophen haben die jüdische Gemeinschaft zweifellos niedergeschmettert, aber auf paradoxe Weise auch gestärkt. Sie führten dazu, das ethische Bewusstsein zu schärfen. Der Baal Schem Tov bringt es so auf den Punkt: Vergessen ist Verbannung, Erinnerung ist Erlösung.
Der Trost der Prophezeiungen Jesajas, »und die Kinder werden zu ihren Grenzen zurückkehren«, wäre nicht in Erfüllung gegangen, wenn man die positiv besetzte Vergangenheit nicht vermisst und wiederum für die Zukunft herbeigesehnt hätte.
Diesen Zusammenhang finden wir auch bei Jesaja wieder, der verkündigt: »Freut euch mit Jerusalem und jubelt über sie, alle, die ihr sie liebt! Frohlockt mit ihr in Freude, alle, die ihr über sie getrauert habt!« (66,10).
Der Talmud sagt: »Jeder, der um Jerusalem trauert, verdient es, die Stadt in Freude wiederzusehen.«
Dementsprechend sagen unsere Weisen im Talmud über die Kraft des Erinnerns: »Jeder, der um Jerusalem trauert, verdient es, die Stadt in Freude wiederzusehen« (Taanit 30b).
Nur derjenige, der das in der Vergangenheit Verlorene betrauert und bereut, ist imstande, die Vorzüge und die Schönheit Jerusalems zu schätzen, und wird alles tun, das einmal Errungene für die Gegenwart wiederzuerlangen, nach allen Kräften herzustellen und zu erneuern. Diese innere jüdische Bewegung und Dynamik bringt eine russische Volkserzählung gut zum Ausdruck:
Napoleon »Als Napoleon bei seinem Feldzug gegen Russland durch ein kleines jüdisches Schtetl zog, äußerte er den Wunsch, die Synagoge von innen zu sehen. Zufällig war dieser Tag der 9. Aw, und die Juden saßen in der Finsternis auf dem Boden, in Wehklagen und Gebet.
Als man Napoleon erklärt hatte, dass der Grund ihrer Klage die Verwüstung des Tempels war, fragte er: ›Wann ist das passiert?‹ ›Vor 2000 Jahren‹, sagte man ihm. Als er das hörte, erklärte der Kaiser: ›Ein Volk, das in der Lage ist, 2000 Jahre lang die Erinnerung an sein Land zu bewahren, wird sicher den Weg zur Heimkehr dorthin finden‹« (Dow Noi, Golah ve-EretsYisrael).
Nicht umsonst verkündet Sacharja, der in der Zeit des Zweiten Tempels wirkte: Das Gedenkfasten wird das Haus Juda in die Freude und zur Aussicht auf schöne Zeiten führen.
Aber vergessen wir an dieser Stelle eines nicht: Es handelt sich hierbei um keinen Automatismus. Sacharja gibt noch etwas Grundlegendes zu bedenken, indem er anfügt: »Aber die Wahrheit und den Frieden sollt ihr lieben!«
Das Fasten und Gedenken des Vorherigen allein genügt nicht. Denn Hass und Unfrieden haben zum Verlust des Tempels geführt. Das Fasten muss von einem alltäglichen Umgang der Kinder Israels in der Wahrheit und im Frieden miteinander begleitet sein, wenn es denn tatsächlich zu einem Wandel von traurigen zu erneuerten fröhlichen Tagen kommen soll.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).