Wandel

Weg weisend

Weiß, wo’s lang geht: So wie diese Polizistin den Verkehrsteilnehmern zeigt, in welche Richtung die Straße befahren werden kann, half auch manch biblische Frau ihrem Mann. Foto: imago

Aus welcher historischen Situation ist der Tanach hervorgegangen? Richard Elliott Friedman hat in seinem Buch Wer schrieb die Bibel? eine verblüffende Antwort hierauf gegeben: aus dem politischen Desaster der Königreiche Israel und Juda. Ihre verhängnisvolle Machtpolitik war geprägt von allgemeiner Demoralisierung, wiederholtem Rückfall in Götzendienste, Bürger- und Bruderkriegen – alles nachzulesen in den beiden Königsbüchern des Tanach. Am Ende stand das Exil.

Die Bevölkerung der im Nordreich Israel zusammengefassten zehn Stämme ging im assyrischen Exil unter. Die Menschen im Südreich Juda hingegen überlebten das Exil in Babylonien und kehrten unter Esras Führung zurück. Friedman nimmt an, dass der Tanach im babylonischen Exil von Esra redigiert worden ist. Er wollte die Juden für alle Zukunft an den einen Gott binden und damit Einheit stiften. In diesem Licht müsse, so Friedman, die gesamte Hebräische Bibel gelesen werden. Daraus ergäben sich auch bestimmte kritische Wertungen, die in den Geschichten versteckt oder offen enthalten sind.

biografien Wenden wir diese These auf den Wochenabschnitt Wajeschew an. Sie handelt von zwei Männern mit sehr verschiedenen Schicksalen: Jakows Söhne Josef und Jehuda. Mit Josef identifizierte sich später das Nordreich Israel, mit Jehuda das Südreich Juda. In beider Biografien bilden Frauen einen wichtigen Schlüssel.

Josef begegnet in Ägypten der Frau des Potifar, der der pharaonischen Leibwache vorsteht. Josef weist sie zurück, heiratet später aber Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters Poti Fera. (Man beachte die Namensähnlichkeit Potifar und Poti Fera.) Jehuda heiratet die Tochter eines kanaanäischen Kaufmanns, hat mit ihr drei Söhne und wohnt später, nachdem er Witwer geworden ist und zwei seiner Söhne gestorben sind, seiner verwitweten kanaanäischen Schwiegertochter Tamar bei. Beide Männer gehen also Verbindungen mit Frauen aus heidnischen Kulturen ein. Bei beiden drängen sich Assoziationen an die verhängnisvolle Geschichte der Königreiche auf.

Zur Vorgeschichte: Jakow ist mit seiner Sippe aus dem Exil bei seinem (aramäischen) Onkel Lawan zurückgekehrt. Arroganz, Machismo und Neid treibt seine Söhne um. Nach Dinas Vergewaltigung richten Schimon und Levi ein Blutbad unter den Bewohnern von Sichem an. Eifersüchtig auf den jüngeren Bruder Josef wollen Jakows Söhne auch diesen umbringen, verkaufen ihn jedoch als Sklaven nach Ägypten. Die erst beginnende Geschichte der Kinder Israel droht sich in einem Abgrund zu verlieren.

Wendung Doch die Situation wendet sich. Das Kapitel 38 des ersten Mosebuches unterbricht Josefs Geschichte in Ägypten mit der Geschichte von Jehuda in Kanaan. Die Rabbinen im Midrasch beschäftigt hierbei vor allem das einleitende Wort »wajarad« – »er (Jehuda) zog hinab«. »Jarad« ist das Gegenteil von »oleh« – »aufsteigen«, mit dem wir die Rückkehr aus dem Exil nach Erez Jisrael bezeichnen. Tatsächlich ziehen beide, Jehuda und Josef, hinab. Jehuda lässt sich auf das Land und die Leute Kanaans ein. Er trennt sich von der Sippe Jakows, man könnte sagen, er emanzipiert sich von ihr.

Mehrfach tut sich Jehuda mit solchem eigenständigen Verhalten hervor. Er war es, der gegen die Mordabsichten seiner Brüder intervenierte und sie überredete, Josef als Sklaven zu verkaufen. Er wird es auch sein, der später in Ägypten in der Konfrontation mit Josef auf diesen zuschreitet und die Wahrheit über dessen Verschwinden ausspricht. Jehuda vermag Schritte zu tun, die nicht nur das Blatt wenden, sondern einen inneren geistigen Wandel bezeugen. Deshalb, so meinen die Rabbinen, ist er es, der den späteren Weg aus der ägyptischen Sklaverei bereitet. Sein Abstieg sei die Bedingung für den späteren Aufstieg – verschlüsselt auch die Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil.

Kontrast In unserem Wochenabschnitt zieht Jehuda zunächst seines eigenen Weges und fängt ein neues Leben an. Eigentlich, so steht in der Tora immer wieder, sollen sich die Israeliten nicht mit den Kanaanäern verbinden. Aber Jehuda überschreitet dieses Verbot. Offensichtlich handelt er dabei richtig. Dies erhellt sich im Kontrast zu Josef – und in der Beziehung beider Männer zu den Frauen, die in dieser Parascha vorkommen.

Auch Josef begegnet in Ägypten einem anderen Volk. Den erotischen Avancen der Frau des Potifar weicht er noch aus und bleibt von der ihn umgebenden ägyptischen Kultur zunächst unberührt. Vielleicht ist es dieses unberührbare Unberührtsein, das Josef nicht erst in Ägypten so viele Extreme erleben lässt. Mal ist er, durch die frustrierte Frau des Potifar ins Gefängnis gebracht, ganz unten, dann aber, nachdem er die Träume des Pharaos gedeutet hat, wieder ganz oben. Die Extreme offenbaren zugleich den ambivalenten Charakter Josefs. Ganz unten, als er noch Sklave ist, hat er sich nicht mit den Ägyptern verbunden. Ganz oben aber tut er es doch. Er ist inzwischen Kanzler des Pharao und heiratet Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters. Damit gehört er zur ägyptischen Oberschicht.

Das Gegenteil von Asnat ist Tamar. Als kinderlos gebliebene Witwe, der Jehuda unrechtmäßig die Leviratsehe mit seinem dritten Sohn verweigert, hat sie keinen Status. Es gelingt ihr jedoch mit einer List, Jehuda beizuwohnen. Dieser erkennt sie nicht, sondern hält sie für eine »sona« – eine Prostituierte. Als bekannt wird, dass Tamar schwanger geworden ist, will Jehuda sie verbrennen lassen. Doch nachdem sie offenbart, von wem sie schwanger geworden ist, spricht Jehuda selbstkritische Worte: »Sie ist gerechter als ich.«

Gerechtigkeit Josefs Frau Asnat bindet Josef in das ägyptische Machtsystem ein. Jehudas Schwiegertochter Tamar führt Jehuda die Ungerechtigkeit der herrschenden Machtverhältnisse vor Augen. Josef macht mit. Jehuda macht nicht mit. Die Bevölkerung des sich auf Josef beziehenden Nordreiches Israel wird verloren gehen, die Bevölkerung Judas wird überleben.

Ist die Wertung, wonach die Verbindung zwischen Jehuda und Tamar eine richtige, die aber von Josef und Asnat nicht wünschenswert ist, von Esra beabsichtigt gewesen? Das letzte Kapitel des Buches Esra erzählt immerhin, wie dieser die heimgekehrten Exilanten dazu bewegt, sich von ihren nichtjüdischen Frauen scheiden zu lassen. Liest man diese Szene jedoch im Lichte der Darstellungen von Asnat und Tamar, kann Esra nur diejenigen Frauen gemeint haben, die ihre Männer in eine andere Religion einbinden – nicht aber Frauen wie Tamar, die das Haus Juda bauen. Auch steht Tamar sinnbildlich für die Sozialethik der Propheten, die weniger Wert auf den Tempelkult legen als auf Gerechtigkeit für Witwen und Waisen.

Zugleich widerspricht Tamar einer ethnischen Abschottung des jüdischen Volkes. Heute können wir in ihr durchaus das Urbild mancher Nichtjüdin sehen, die ihren entfremdeten jüdischen Partner erst wieder zum Judentum zurückführt und das Überleben unseres Volkes sichert. In Jehuda aber erkennen wir den Mann, der sich – nicht nur, aber auch in der Beziehung zur Frau – zu wandeln und zu emanzipieren vermag und damit in die Zukunft des jüdischen Volkes weist.

Die Autorin ist Rabbinerin des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.

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