Müll

Weg damit!

Endlich alles wegwerfen, was einen schon lange nervt: Der »Good Riddance Day« bietet die ideale Gelegenheit dafür. Foto: imago

Wir Juden sind doppelt gesegnet, wenn es um Neujahr geht. Eines feiern wir im Herbst, an Rosch Haschana, der Geburt der Menschheit gedenkend. Ein weiteres Neujahrsfest fällt ins Frühjahr, wenn der Kalender den Monat Nissan anzeigt (in diesem Jahr beginnt er am 9. April).

Für die Tora ist Nissan der erste Monat des Jahres, denn er markiert den Auszug aus Ägypten und die Geburt des jüdischen Volkes. Pessach ist der Feiertag in Gedenken an diesen Anfang, und am Morgen des Seders findet eine symbolische Verbrennung statt, die stark an den »Good Riddance Day« erinnert – eine relativ junge Tradition in New York, die zum Jahreswechsel 2015/2016 zum neunten Mal auf dem Times Square gefeiert wurde.

Tim Tompkins, Präsident der »Times Square Alliance«, erklärte den Brauch folgendermaßen: »Er bietet allen eine wunderbare Gelegenheit, Erinnerungen an negative Ereignisse aus dem letzten Jahr physisch zu zerstören und symbolisch in eine bessere Zukunft aufzubrechen.«

Times Square Tatsächlich strömten New Yorker an Silvester wieder massenweise zum Times Square, und sie alle hatten ihren ganz eigenen und einzigartigen Stil, einen Tag zu begehen, der dafür gedacht ist, Müll aus ihrem Leben wegzuschaffen und Geringschätzung für all die schlimmen Dinge der Vergangenheit zu demonstrieren.

Die Menschen sagten auf Nimmerwiedersehen zu allem, was sie ein für allemal loswerden wollten. Einige nutzten den Moment, um Briefe von untreuen Partnern zu verbrennen. Ein Elternpaar schredderte die Nierenkrebs-Diagnose ihres Sohnes, die ein Jahr davor gestellt worden war: der Krebs ist Gott sei Dank so gut wie überwunden. Viele brachten Unterlagen wie Arztrechnungen, die sie zerstören wollten, oder größere Gegenstände, um sie mit dem Hammer zu zerkleinern und sich an den Problemen des vergangenen Jahres zu rächen. Allen gemeinsam war der Ruf nach Befreiung von all jenen Aspekten ihres Lebens, die sie auf greifbare Weise loswerden wollten, und der Schwur, böse Erinnerungen daran zu hindern, sich in die Zukunft einzumischen.

Etwas Ähnliches gibt es in der jüdischen Tradition seit Tausenden von Jahren. An Pessach ist es den Juden auferlegt, Matze zu essen. Nicht nur dürfen sie kein gesäuertes Brot essen, es ist auch verboten, den winzigsten Krümel davon in Haus zu haben.

Abschwören Brot ist etwas, dem man hundertprozentig abschwören muss. Was vor Pessach davon noch übrig ist, muss feierlich verbrannt und verbal geleugnet werden. Juden sagen dabei den Spruch: »Aller Sauerteig und alles gesäuerte Brot, das sich in meinem Besitz befindet, das ich nicht wahrgenommen und nicht weggeräumt habe und das mir sonst unbekannt geblieben ist, soll als nicht vorhanden angesehen werden und dem Staub der Erde gleich sein.«

Was bedeutet diese plötzliche Abneigung gegen Brot? Was macht dieses Lebensmittel, normalerweise ein wichtiger Teil unserer Ernährung, auf einmal so verwerflich? Die traditionellen Kommentatoren bieten verschiedene symbolische Deutungen, zum Beispiel vergleichen sie die Hefe mit der Neigung zum Bösen und das Brot, das »aufgegangen ist«, mit der Sünde übermäßigen Stolzes.

Gestatten Sie mir den Versuch einer neuen Deutung. Historiker sagen, das Sauerteigbrot sei die älteste und ursprünglichste Form von Hefegebäck. Die älteste Aufzeichnung über die Verwendung von Sauerteig stammt aus der altägyptischen Zivilisation. Archäologische Funde bestätigen, dass Hefe – sowohl als Backtriebmittel als auch zum Bierbrauen – zuerst in Ägypten verwendet wurde. Übereinstimmend schreiben Lebensmittelhistoriker dem Land am Nil, biblischerseits bekannt für seine Versklavung der Hebräer, diese bemerkenswerte technologische Erfindung zu, die für den zivilisatorischen Fortschritt eine so entscheidende Rolle spielte.

Nil
Das technische Know-how der Ägypter brachte der Welt ein großes Geschenk in Sachen Nahrung und Ernährung. Doch leider war dieser »wissenschaftliche Durchbruch« nicht von einem entsprechenden moralischen Fortschritt begleitet. Die Erfinder des Brotes blieben die barbarische Besitzer von Sklaven. Die gleichen Menschen, die das tägliche Brot entdeckt hatten, zögerten keine Minute, als Handlanger des Todes die Kinder der Hebräer im Nil zu ertränken.

Daraus konnte man schon vor vielen tausend Jahren die Lehre ziehen, dass Wissenschaft und Ethik nicht Hand in Hand gehen. Bis zum heutigen Tag hat sich daran nichts geändert. In unserer Zeit war es Albert Einstein, der die Warnung aussprach: »Es ist angsteinflößend offensichtlich geworden, dass unsere Technologie unsere Humanität übersteigt.« Und er fügte hinzu: »Unser ganzer gepriesener Fortschritt der Technik, überhaupt die Civilisation, ist der Axt in der Hand des pathologischen Verbrechers vergleichbar.« Die Technologie hat uns das Smartphone gebracht, doch viele Menschen sind in ethischer Hinsicht dumm geblieben.

Vielleicht will die Verbrennung von Chametz gerade diesen Gegensatz aufzeigen zwischen technischen Errungenschaften und der Neigung der Menschen, weiterhin Böses zu tun. Als die Hebräer kurz davor standen, aus der Sklaverei befreit zu werden, befreiten sie sich symbolisch auch von der großen technologischen Errungenschaft Ägyptens, dem Brot, um zu zeigen, dass wissenschaftlicher Fortschritt, getrennt von den Gesetzen der Moral, nicht uneingeschränktes Lob und bereitwillige Akzeptanz verdient, sondern verurteilt werden muss.

Abbild Jedes Jahr vor Pessach haben die Juden einen Befreiungstag. Der »Bösewicht« ist nicht das Brot, sondern das, wofür das Brot für die Juden im alten Ägypten stand – ein mächtiges Symbol für den geistigen Fortschritt auf Seiten ihrer Unterdrücker, die für die Menschen, die sie unterdrückten, keinerlei Mitgefühl zeigten. Die erfinderischen Ägypter aßen Brot; ihre Sklaven, denen die Würde von als Abbild Gottes geschaffenen Menschen verweigert wurde, waren gezwungen, Matza, das Brot des Leides, zu essen.

Diese Botschaft sollte viel häufiger ins Bewusstsein gerufen werden als nur im Zusammenhang mit dem Vorabendritual an Pessach. Diejenigen, die auf der Silvesterfeier in Manhattan nichts zum Zerstören mitgebracht hatten, wurden ermuntert, Dinge in ein Buch einzutragen, die sie gern aus unserer gemeinsamen Zukunft streichen würden. Die Einträge erstreckten sich von der Popkultur – »die Berühmtheit von Miley Cyrus« – bis zu ernsthaften Dingen: Krebs, Krieg, Menschenhandel, Armut.

Ich möchte all diesen Dingen, die wir aus der Zukunft verbannen sollten, einen weiteren Wunsch hinzufügen: »Technologie ohne Werte, Fortschritt ohne Klugheit.« Denn ein Welt voll nuklearer Giganten ist ein gefährlicher Ort, wenn sie mit Menschen bevölkert ist, die im ethischen Sinne Babys geblieben sind. Daran sollten wir denken, wenn wir vor Pessach Chametz verbrennen.

Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Gelegenheit von www.aish.com

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