In Mendrisio, einer kleinen Stadt im südlichsten Zipfel der Schweiz, wurde vergangenes Jahr Tatsache, was nun viele auch in Teilen Deutschlands als Szenario für diesen Sommer sehen: Das Wasser musste streng rationiert werden. Das wäre eine für unsere Gefilde ungewöhnliche Maßnahme. Wir lernen zwar alle, dass Wasser ein wertvolles Gut ist und wir nicht verschwenderisch damit umgehen sollten. Aber letztlich leben wir in der Gewissheit, dass es immer aus dem Wasserhahn, dem Duschkopf, dem Gartenschlauch und der Toilettenspülung kommt, wenn wir es brauchen.
Tatsächlich gehört die exzellente Wasserwirtschaft, die wir in Industriestaaten kennen, zu den bedeutendsten Errungenschaften und Voraussetzungen für einen funktionierenden Alltag – wenn dieser Alltag in Gefahr gerät, werden wir uns der Außerordentlichkeit der Lage, in der sich der Planet befindet, definitiv bewusst.
indikator Das Judentum hat Wasser seit jeher als Indikator der Beziehung zwischen Gott und den Menschen gesehen. Bei der über eine als verkommen geschilderte Menschheit gesandten Sintflut äußert sich dies an einem Übermaß an Wasser, später lesen wir von verschiedenen Dürren, die die Menschen an den Rand der Existenz bringen und auch Migration (etwa von Kanaan nach Ägypten) verursachen. Bei der Wüstenwanderung Israels führt die Angst vor dem Verdursten wiederholt zu den schlimmsten Krisen, und indem Moses in einer solchen Notlage einmal einen Felsen schlägt, statt – wie von Gott angeordnet – zu ihm zu sprechen, verwirkt er damit gar das Recht, je in das Gelobte Land gehen zu dürfen.
Die ausdrückliche Verbindung zwischen einem gottgefälligen Leben und der Segnung mit Tau, Früh- und Spätregen findet sich in der Tora (5. Buch Mose 11,14) und ist Teil des täglichen Schma-Gebetes geworden. Entsprechend gehört (den klimatischen und agrarischen Realitäten des Landes Israel entsprechend) die Bitte um Regen im Winter und um Tau im Sommer zur Grundausstattung des zentralen jüdischen Achtzehngebets.
Die Rabbinen der Mischna in den ersten zwei Jahrhunderten unserer Zeitrechnung verfeinerten die Indikation zwischen Gottesbeziehung und Mensch bis hin zur genauen Terminierung des Regenfalls. Regnet es am Sukkotfest, bedeutet das einen Fluch, vergleichbar mit einem König, der dem Diener den Becher, den dieser ihm kredenzt, ins Gesicht schüttet.
bitte nach regen Die ausdrückliche Bitte an Gott um Regen wurde, der Verfügung des Rabban Gamliel gemäß, für den 7. Marcheschwan angesetzt, 15 Tage nach Ende des Laubhüttenfestes, damit es garantiert alle Pilger auch von Jerusalem nach Babylon zurückgeschafft hätten und man nicht Gott um Regen bitten würde, der die Leute auf der Reise behinderte. Regnete es danach aber mehrere Wochen nicht, wurden gar Fasttage eingeführt, um der Bitte nach Regen Nachdruck zu verleihen.
Wir lernen, dass wir nicht verschwenderisch mit Wasser umgehen sollten.
Das aufgeklärt-säkulare Denken konnte mit dieser Herangehensweise an meteorologische Ereignisse lange nichts anfangen. Die Wissenschaft verfügte über Erklärungsmodelle des Entstehens von Hoch- und Tiefdruckgebieten, Luftströmungen und anderem, die es weltfremd erschienen ließen, Gott durch einen Fasttag Regen zu entlocken.
Doch gerade unsere Generation dürfte, auch bei nicht besonders religiös ausgerichteten Menschen, differenzierter auf diese Weltsicht blicken. Das berühmte »follow the science« nämlich ist ein ganzheitlicher Ansatz, der Respekt vor der Natur einfordert und zugleich menschliches Handeln als einflussreich selbst bezüglich der Entwicklung klimatischer Gegebenheiten sieht – kurzum, der das »Prinzip Verantwortung« (Hans Jonas) des Einzelnen wie des Kollektivs als entscheidend für den Weiterbestand unserer Welt, wie wir sie kennen, betrachtet. Und wie wir spätestens seit der Katastrophe im Ahrtal erfahren mussten, kann nicht nur der Mangel, sondern auch der unsteuerbare Überfluss von Wasser verheerend sein.
verbot Das Fasten bei Regenmangel ist ja für die Weisen der Mischna kein Selbstzweck, es bedeutet einen Aufruf zur Buße, zur Besserung des eigenen Handelns. Der Schlüssel der Verbindung von Judentum und ökologisch verantwortungsvollem Handeln liegt in dem in der Tora ausgesprochenen Verbot »bal tasch’chit« (du sollst nicht zerstören). Es bezieht sich ursprünglich (5. Buch Mose 20,20) auf Obstbäume, die nicht zu Zwecken der Kriegsführung gefällt werden dürfen, aber das Verbot hat sich im Lauf der Zeit zu einem der mutwilligen Zerstörung von Dingen überhaupt, selbst eigenen Besitzes, weiterentwickelt.
Der bedeutende israelische Rabbiner Jakov Ariel hat in seinem Werk Halacha in unserer Zeit nachdrücklich darauf hingewiesen, dass »bal tasch’chit« nachhaltiges Wirtschaften, Produzieren und Konsumieren mit einschließt, denn die Verantwortung des Menschen gilt nicht nur dem einzelnen Gegenstand in seiner Reichweite, sondern der Erhaltung der Welt insgesamt.
Damit sei nicht angedeutet, es gelte zu fasten, wenn in der Schweiz oder Deutschland das Wasser rationiert werden muss. Aber eine Prüfung des eigenen Handelns, durchaus auch verbunden mit der Frage, ob man persönlich Gottes Schöpfung den zu ihrem Erhalt unerlässlichen Respekt zuteilwerden lässt, kann ein authentisch jüdischer Beitrag dazu sein, größeren Notlagen entgegenzuwirken.
Der Autor ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel.