Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

»Etliche Gemeinden finden keinen passenden Rabbiner«: Gründungsdirektor Rabbi Josh Spinner (l.) und Zentralratspräsident Josef Schuster Foto: Rabbinerseminar

Herr Spinner, Sie haben 2009 das Rabbinerseminar ins Leben gerufen und damit das erste Mal nach der Schoa wieder eine orthodoxe Rabbinerausbildung in Deutschland ermöglicht. Wie kam es dazu?
Josh Spinner: Zwei Dinge kamen damals zusammen. Erstens gab es immer noch dieses deutliche Gefühl von einem Bruch in der jüdischen Tradition in Deutschland. Die Kette jüdischen Lernens und der Weitergabe von Wissen, war zerbrochen. Rabbiner, Menschen, die die Tora lehren konnten, mussten von woanders importiert werden. Auf der anderen Seite gab es in diesen Jahren eine unglaubliche Euphorie und einen Hunger nach Wissen, nach einem Wiederaufnehmen dieser Tradition, auch des jüdischen Narrativs, in Deutschland.

Sie sind in den USA geboren. Wann kamen Sie nach Deutschland?
Spinner: Ich hatte zuvor in Belarus gearbeitet, stand aber auch schon mit der deutschen Gemeinschaft in Kontakt. 2000 zog ich nach Berlin. Von da an habe ich eine organische Entwicklung beobachtet: Immer mehr junge Leute interessierten sich für die Lernangebote der Ronald Lauder Foundation. Eine Jeschiwa entstand. Bis 2009 fanden sich immer mehr junge Männer in Berlin zusammen, die quasi aus dem Nichts Tora gelernt hatten, die voller Begeisterung waren und absolutes Potenzial besaßen, weiterzugehen und Rabbiner zu werden. Von da an haben wir als Stiftung in diesem vorher eher natürlichen Prozess eine klare Entscheidung getroffen: Wir bauen jetzt ein orthodoxes Rabbinerseminar auf. Und zwar direkt anschließend an das Hildesheimer Rabbinerseminar, das hier vor dem Krieg florierte. Es war ein großer Moment für uns, ein Moment, in dem der Optimismus über dieses Gefühl der Zerbrochenheit triumphierte.

Wenn Sie an die ersten Rabbinatsstudenten zurückdenken und mit jenen vergleichen, die sich heute für diesen Weg entscheiden – was hat sich in den vergangenen 15 Jahren verändert?
Spinner: Es gibt große Unterschiede, und ich glaube, diese beziehen sich nicht nur auf unsere Studenten, sondern auf die gesamte jüdische Community. Die jungen Menschen, die Ende der 2000er zu uns kamen, waren hauptsächlich Migranten. Sie waren häufig in postsowjetischen Ländern aufgewachsen und erst als Jugendliche nach Deutschland gekommen. Das heißt: Sie hatten eine unglaubliche Motivation, hier etwas aufzubauen, endlich ihre jüdische Identität auszuleben. Aber sie waren noch nicht komplett vertraut damit, wie dieses Land funktioniert. Unsere Studenten heute dagegen sind fast alle hier geboren, sind in den Gemeinden groß geworden. Sie haben dadurch vielleicht nicht mehr diesen Drang, hier einen neuen Aufbruch zu wagen. Aber dafür sind sie absolut gefestigt in der Community und begreifen sich als selbstverständlichen Teil dieses Landes.

Herr Schuster, Sie sprechen gerne davon, dass heute Rabbiner »made in Germany« ausgebildet werden. Wenn Sie die deutschen Gemeinden betrachten: Was muss ein idealer Rabbiner da mitbringen?
Josef Schuster: Er muss einerseits eine rabbinische Persönlichkeit sein, mit entsprechender Ausbildung, sich dann aber auch auf eine Gemeinde einstellen, die zum Großteil nicht unbedingt nach den Religionsgesetzen lebt, aber dennoch das traditionelle Judentum weiterführen will. Dazu kommt: Wir haben jenseits einiger Großgemeinden in Deutschland auch viele kleinere Gemeinden, wo der Rabbiner ein absoluter Allrounder sein muss: Dort wird erwartet, dass er auch vorbetet, er muss aus der Tora vorlesen können, als Maschgiach die Gemeindeküche kontrollieren und Beerdigungen betreuen. Mir ist wichtig, dass die Rabbiner sich in dieses Umfeld einfühlen, dass sie gut Deutsch sprechen können. Auch wenn sie in Berlin ausgebildet werden, wo es eine tolle jüdische Infrastruktur gibt, müssen sie in kleineren Städten funktionieren, wo man dies alles selbst organisieren muss. Wir brauchen Rabbiner für ganz Deutschland.

Kann die Ausbildung im Rabbinerseminar das leisten?
Spinner: Unsere Ausbildung ist sehr stark von den Ansprüchen geprägt, die Herr Schuster gerade formuliert hat. Ein wichtiger Baustein ist das Institut für traditionelle Liturgie. Jeder unserer Rabbiner lernt dort, die unterschiedlichen Melodien der Gebete am Schabbat und verschiedenen Feiertagen zu beherrschen. Ein anderer Baustein ist unser Sommersemester, in dem unsere Studenten ganz praktische Fähigkeiten erlernen. Ein Beispiel: In den kleineren Gemeinden ist der Rabbiner häufig die einzige öffentliche jüdische Person, die das professionell macht. Das heißt, er ist derjenige, den der Bürgermeister zum Thema Antisemitismus anruft. Er spricht mit dem israelischen Botschafter, der zu Besuch kommt. Er hält den interreligiösen Dialog aufrecht. Das sind übrigens alles Dinge, die man in einer klassisch orthodoxen Rabbinerausbildung wie in den USA nicht lernt.
Schuster: Wir haben außerdem die Möglichkeit, dass die Rabbiner an den Hochschulen in Heidelberg und Erfurt einen gemeinsamen Bachelor-Studiengang in Jüdischer Sozialer Arbeit absolvieren können. Sie sollen keine Sozialarbeiter sein, aber ich glaube, und das ist gar nicht aufs Judentum beschränkt, dass Geistliche aller Konfessionen immer auch im sozialen Bereich tätig sein müssen. Sie sind auch Seelsorger.
Spinner: Was wir von diesen Menschen erwarten, ist enorm. Ich erinnere mich an den Anruf einer Vorsitzenden einer kleinen Gemeinde, die mir auflistete, was sie sich von einem neuen Rabbiner wünsche. Ich sagte ihr: Also Sie suchen jemanden, der Tora lehrt wie Moses, singt wie Pavarotti, Empathie hat wie Mutter Teresa, und Sie wollen ihm 2000 Euro brutto im Monat zahlen? Und sie sagte: Ja genau, das ist es!

Sie meinen, diese Erwartungen seien kaum zu erfüllen?
Spinner: Das ist die eine Sache. Die andere ist: Wird eine Person, die all diese Fähigkeiten mitbringt, sich in einer kleinen Gemeinde wohlfühlen? Eine Person, die schon so weit gekommen ist, will sich weiterentwickeln. Das ist natürlich auch in kleinen Gemeinden möglich. Aber es ist schwerer. Wir haben eine ordentliche Anzahl an Rabbinern ausgebildet, die das geschafft haben, die sich in diesen Gemeinden etabliert haben. Ich denke an unsere Alumni in Konstanz oder Baden-Baden. Das sind Rabbiner, die sich bewusst für diese Orte entschieden haben, obwohl sie auch in größeren Städten hätten wirken können.
Schuster: Um ein Musterbeispiel zu nennen: Sehen Sie sich Rabbiner Zsolt Balla an. Er ist ein früher Absolvent des Rabbinerseminars, der zusammen mit seiner Frau und zwei Kindern die Gemeinde in Leipzig lebendig gestaltet und attraktiv für junge Leute macht, der gleichzeitig Landesrabbiner in Sachsen ist und Deutschlands erster Militärbundesrabbiner.
Spinner: Und er singt sogar wie Pavarotti!

Erlauben Sie mir trotzdem die kritische Nachfrage: Von den Absolventen der Rabbinerseminare, die der Zentralrat mit­finanziert, sind mehr als die Hälfte heute nicht in jüdischen Gemeinden in Deutschland angestellt. Woran liegt das?
Schuster: Dieser Punkt ist mir wichtig. Bei der liberalen Rabbinerausbildung in Deutschland haben wir tatsächlich aktuell die Situation, dass die überwiegende Anzahl der Absolventen ins Ausland geht. Das muss sich ändern, und daran arbeiten wir auch. Es kann nicht sein, dass wir hier Rabbiner mit deutschen Steuergeldern ausbilden für die ganze Welt. Was die orthodoxe Ausbildung anbelangt, sieht es schon viel besser aus, die Absolventen bleiben zumindest größtenteils in unseren Gemeinden, und auch wenn mal ein Rabbiner in die Schweiz oder in die USA geht, soll es uns nur recht sein. Was aber Herr Spinner schon angesprochen hat, ist, dass viele junge Rabbiner nicht lange in den kleineren Gemeinden bleiben. Da wäre mein Vorschlag, dass wir mehr auch auf ältere Anwärter setzen, die dann zum Beispiel als ordinierte Rabbiner keine kleinen Kinder mehr haben und weniger ortsgebunden sind.
Spinner: Wir dürfen nicht vergessen, was wir uns 2009 vorgenommen haben: Natürlich ging es darum, Rabbiner aus Deutschland für Deutschland auszubilden. Aber eben nicht nur. Wir wollten auch die rabbinische Tradition in Deutschland wieder auf ein hohes, international anerkanntes Niveau heben. Das ist uns gelungen. Unsere Smicha wird von allen großen rabbinischen Autoritäten anerkannt. Niemand hätte 2009 gedacht, dass wir in Berlin einmal Rabbiner ausbilden, die in Israel oder den USA Hochzeiten durchführen können – Rabbiner, die beinahe überall akzeptiert werden.

Lassen Sie uns 15 Jahre nach vorn schauen. Wenn man die aktuellen Entwicklungen bedenkt: die schrumpfende Mitgliederzahl der kleineren jüdischen Gemeinden, aber auch neue jüdische Zuwanderung aus Israel und der Ukraine, den zunehmenden Antisemitismus – wo sehen Sie die deutschen Gemeinden im Jahr 2040? Und welche Rolle sollte das Rabbinerseminar für sie spielen?
Schuster: Einige der heute existierenden jüdischen Gemeinden werden tatsächlich auf Dauer nicht überlebensfähig sein – aus demografischen Gründen. Es wird wohl einige räumliche Zusammenschlüsse geben. Wenn ich aber sehe, welchen Bedarf an Rabbinern es heute gibt, der nicht gedeckt werden kann, habe ich bezüglich der Notwendigkeit der Rabbinerseminare, in allen drei Denominationen, überhaupt keine Sorge, dass das ein überflüssiges Geschäft ist. Ich selbst habe erlebt, dass die Suche eines Rabbiners für Würzburg einige Zeit gedauert hat.
Spinner: Ich stimme Herrn Schuster zu, dass da unser Hauptproblem liegt: Wir haben nach wie vor etliche Gemeinden, die keinen passenden Rabbiner finden. Diese hohe Nachfrage wird in den nächsten
15 Jahren auch nicht komplett durch unser Angebot an Rabbinern gesättigt sein.

Und doch werden sich die jüdischen Gemeinden auch in ihrer Struktur ändern. Welche Rabbiner braucht die nächste Generation?
Spinner: Wir stehen in einem sehr intensiven Austausch darüber. Wenn wir zum Beispiel auf die stark steigende Zahl von Israelis in Deutschland schauen – sollten wir uns diesen Menschen stärker proaktiv zuwenden? Sollten wir Rabbiner ausbilden, die diese Community kulturell verstehen? Dann gibt es tatsächlich in den größeren Städten eine steigende Nachfrage nach jüdischen Religionslehrern: Frankfurt und Dortmund haben jüngst neue Schulen eröffnet. Sollten wir in Rabbiner investieren, die dort arbeiten können, einen pädagogischen Fokus haben?

Und was ist mit weiterführender jüdischer Bildung für Erwachsene?
Spinner: Wir veranstalten zum Beispiel in einer Kooperation mit den Berliner Studien zum Jüdischen Recht die Hildesheimer Vorträge, auf denen auch unsere Absolventen in eine akademische Öffentlichkeit hineinwirken. Das kann es für jüdische Intellektuelle viel spannender machen, in Deutschland zu bleiben. In welche Bereiche wir investieren, das sind letztlich Entscheidungen, die die jüdischen Verantwortlichen, der Zentralrat, nicht nur reaktiv, sondern proaktiv treffen müssen. Und sie werden prägend dafür sein, wie das jüdische Leben 2040 in Deutschland aussieht.

Das Gespräch führte Mascha Malburg.

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