»Was wäre, wenn ich diesen Artikel niemals schreiben würde?« Es gibt wohl keinen Menschen, der sich nicht einmal im Leben die Frage gestellt hat, was wohl passiert wäre, wenn eine Gegebenheit in der Vergangenheit anders gewesen wäre. Würden wir ein völlig anderes Leben führen? Wären die Gegenwart und die Zukunft dann vielleicht besser oder schlechter?
Wir können über die Antworten auf die oben genannten Fragen nur spekulieren, denn jede Situation ist das Resultat vergangener Kausalitäten. Jeder Zusammenhang ist das Ergebnis früherer Zusammenhänge.
ECHO Es scheint, als wäre der Augenblick ein Echo der Weltschöpfung, ein Dominostein, der fällt, weil der vergangene Moment ihn gestoßen hat. Die Zeit verläuft linear, und die oben gestellten Fragen haben dem ersten Anschein nach nur wenig praktische Relevanz, sodass die meisten Menschen ihren Blick auf die Zukunft werfen, auf das, was noch veränderbar ist, nicht auf eine alternative Vergangenheit.
Trotzdem erfreut sich die Disziplin der Kontrafaktizität einer immer größeren Beliebtheit unter den Geschichtswissenschaftlern. Bei der Analyse von kontrafaktischer Geschichte betrachten Historiker die Gegebenheiten der damaligen Epochen und konstruieren eine wahrscheinliche Entwicklung, die eingetreten wäre, wenn sich ein vergangenes Ereignis anders abgespielt hätte, als es sich tatsächlich abgespielt hat.
Hätte sich Awraham geweigert, Jizchak zu opfern, wäre die jüdische Nation nie geboren worden.
Zahlreiche Bücher beschäftigen sich beispielsweise mit der Frage, wie die Welt wohl aussehen würde, wenn die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Andere beschäftigen sich mit der Frage, wie die Welt aussehen würde, wenn es den Ersten Weltkrieg nicht gegeben hätte.
Sinn und Zweck ist dabei, die Vergangenheit und ihre Zusammenhänge besser verstehen zu lernen und somit auch einen Gewinn an Wissen zu erlangen, der uns dabei helfen könnte, künftige Ereignisse besser einzuordnen.
PARALLELWELTEN Seit der Antike beschäftigen sich Menschen auch mit der Idee von Parallelwelten. Hypothetische Universen, in denen sich Dinge anders abgespielt haben. Eine Welt für jede mögliche Option der Ereignisse. Das Thema der Parallelwelten wurde zum Motiv zahlreicher populärer Fernsehserien, in denen die kontrafaktische Geschichte als parallele faktische Geschichte betrachtet wird und die Helden der Geschichte durch verschiedene Welten reisen, um irgendetwas zu lernen oder in Ordnung zu bringen.
Auch wenn die Existenz von Parallelwelten genauso wie die Spekulationen über kontrafaktische Geschichtsentwicklungen wohl nur in den Köpfen der Autoren dieser Geschichten existieren und verlaufen, wie es in den Büchern und Serien dargestellt wird, geben diese Geschichten uns wunderbare Reflexionsanlässe und helfen uns dabei, die Gegenwart besser einzuordnen.
Viele werden überrascht sein, dass die Weisen des Talmuds sich schon vor vielen Jahrhunderten mit kontrafaktischer Geschichte beschäftigt haben. Dabei wurden alternative Szenarien und spannende Verbindungen biblischer Geschichten erörtert, immer wieder verknüpft mit einer Botschaft an künftige Generationen.
AMALEK Ein Beispiel: In der Tora sind die Amalekiter die Erzfeinde der Israeliten. Die Tora ermahnt das jüdische Volk: »Gedenke, was dir Amalek antat, als ihr auszogt aus Ägypten, als er über deinen Weg kam und die Schwachen rücklings überfiel … du sollst sein Andenken auslöschen und es dennoch nicht vergessen« (5. Buch Mose 25, 17–19).
Vielleicht wäre der Messias schon da, hätten die Erzväter Timna anders behandelt.
Immer wieder griffen die Amalekiter die Israeliten an. Meistens dann, wenn die Israeliten sich schwach fühlten. Doch ein Blick in die Tora offenbart uns, dass Israel und Amalek eigentlich verwandt sind. Awraham zeugte Jizchak, und dieser zeugte Jakow (später Israel genannt) und Esaw, und Esaw zeugte Elifas. Elifas nahm sich eine Frau namens Timna zur Nebenfrau, und aus dieser Verbindung entstand Amalek (1. Buch Mose 36,12).
Also ist der Erzvater des jüdischen Volkes, Jizchak, auch der Urgroßvater von Amalek. Was war geschehen? Der Talmud erzählt uns im Traktat Sanhedrin 99b, dass Timna sich der Nation der Hebräer anschließen wollte, dass sie sozusagen konvertieren und mit Awrahams Familie zusammenleben wollte. Die sonst sehr gastfreundlichen Erzväter wollten sie allerdings nicht aufnehmen, da sie als Propheten eine von ihr ausgehende Gefahr wahrgenommen hatten.
entschluss Timna fasste den Entschluss, trotzdem in die Familie der Erzväter hineinzuheiraten und durch die Verbindung mit Esaws Sohn Elifas ein Teil der Kinder Awrahams zu werden. Esaw und seine Nachkommen hatten allerdings den Weg ihrer Väter verlassen und sich dem Götzendienst zugewandt, sodass Timnas Nachkommen zu den Erzfeinden der Israeliten wurden.
Mit tödlichen Folgen. Der Talmud kritisiert die Erzväter der Nation für mangelnde Inklusivität und gibt uns an anderen Stellen zu verstehen, dass der Messias wahrscheinlich schon gekommen wäre, wenn die Situation mit Timna anders gelöst worden wäre.
Die Weisen lehren auch, dass Jizchak unfruchtbar war. Doch als Verdienst für die Bereitschaft Awrahams, seinen Sohn auf dem Berg Moria zu opfern, hat G’tt ihn fruchtbar gemacht, sodass es zur Geburt Jakows kommen konnte. Hätte sich Awraham anders entschieden und wäre nicht dem g’ttlichen Befehl gefolgt, so wäre es nie zur Geburt der jüdischen Nation gekommen.
LEA Doch die spannendste alternative Geschichte ist meiner Meinung nach die Geschichte von der Eheschließung der Söhne Jizchaks: Jakow und Esaw. Wir wissen aus dem 1. Buch Mose 29, dass Jakow die beiden Schwestern Lea und Rachel geheiratet hat, die Erzmütter des jüdischen Volkes.
Die Weisen berichten darüber, dass es g’ttliche Vorsehung war, dass Jakow und Rachel sowie Esaw und Lea heiraten sollen. Der Messias, der von König David abstammen soll, kann auf den Stamm Jehuda zurückgeführt werden. Jehuda ist ein Sohn Leas. Mit anderen Worten: Jakows Bruder Esaw sollte der Vater der israelitischen Könige und der Vater der Erlösung werden, nicht Jakow.
Esaw entschied sich allerdings dafür, wie bereits erwähnt wurde, dem Weg Awrahams nicht mehr zu folgen. Lea vernahm mit ihren prophetischen Fähigkeiten, dass es ihr Schicksal sei, Esaws Frau zu werden. Sie wollte allerdings zur Frau des gerechten Jakow werden und nicht zur Frau des bösen Esaw, und so begann sie, unaufhörlich für eine Planänderung in der Vorsehung zu beten.
heirat Letztendlich heiratete sie Jakow und wurde mit ihm gemeinsam (im Gegensatz zu ihrer Schwester Rachel) in Hebron begraben. Esaw heiratete eine andere Frau und zeugte mit ihr, wie bereits erwähnt, Elifas, der später Timnas Ehemann wurde.
Was die Weisen des Talmuds mit dieser Geschichte lehren wollen, ist: Gebete sind so mächtig, dass sie selbst die vom Schöpfer der Welt bestimmte Vorsehung durchbrechen und neue Verläufe der Geschichte schaffen können.
Wir können durch unsere Entscheidungen und Gebete den Lauf der Geschichte verändern.
Im Schemone-Esre-Gebet, der Amida, heißt es: »Gelobt seist Du (…) G’tt von Jakow, der Gott (ha El), der mächtig ist …« Das hebräische Wort für »der Gott« lautet HaEl und ist rückwärts geschrieben: Lea. Jakow und Lea verbrachten nicht nur ihr Leben miteinander, auch ihre Körper wurden gemeinsam bestattet, und ihre Namen, ihre Buchstaben schauen sich symbolisch an, in jedem Siddur, in jedem Pflichtgebet, das ein Jude dreimal am Tag spricht.
BOTSCHAFT All dies, um uns wohl die stärkste Botschaft der Hoffnung zu geben: Auch wenn es scheint, als wäre der Augenblick ein Echo der Weltschöpfung, ein Dominostein, der fällt, weil der vergangene Moment ihn gestoßen hat, sind wir dem Lauf der Geschichte nicht schutzlos ausgesetzt.
Wir können durch unsere Entscheidungen und Gebete den Lauf der Geschichte verändern und Optionen schaffen, die zuvor nicht existiert haben. Allerdings sollte man achtsam sein mit den Dingen, für die man betet. Die Weisen lehren auch, dass Lea ihre Gebetskraft hätte nutzen können, um Esaw wieder auf den rechten Weg zu bringen, somit hätte es einen anderen Lauf der Geschichte gegeben, ohne Elifas und ohne Amalek.
Daher sollten wir G’tt einfach bitten, uns auf dem von ihm als besten Weg erachteten Lebensweg zu führen, und in der Hoffnung leben, dass der eigene Weg nach einem wahrhaftigen Gebet zu den besten Konsequenzen des g’ttlichen Plans führen wird.
Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.