Kaum haben wir »Black Friday« und »Cyber Monday« hinter uns, folgen die langen Samstage und verkaufsoffenen Sonntage. Die Einkaufsstraßen und Shopping-Center sind voll, auch die Onlinehändler und Paketboten haben reichlich zu tun. Rund 99,4 Milliarden Euro gaben die Deutschen 2018 in den umsatzstarken letzten Wochen des Jahres aus. Und 2019 soll die 100-Milliarden-Umsatzmarke geknackt werden.
Viele von uns sind, wenn die Kassen derzeit klingeln, nicht mit von der Partie. Denn wenn es ein spezifisches Konsumverhalten der jüdischen Minderheit gibt, dann hebt es sich gerade in der Weihnachtszeit deutlich von dem der Mehrheit ab. In diesen Wochen, in denen überall Kaufrausch oder die nervende Kritik daran herrscht, kann das Judentum geradezu befreiend wirken. Juden kommen schlicht nicht vor in der Spannweite des vorweihnachtlichen Konsums.
geschenke Der reicht einerseits von gehetzten Menschen, die auf der Suche nach Geschenken in den Innenstädten scheinbar ratlos und unglücklich von Geschäft zu Geschäft rennen, bis zu den Verweigerern, die ihnen mit missionarischem Eifer im Geiste hinterhereilen und das Konsumverhalten der ganzen Welt nach ihrem Ebenbild zu formen trachten. Sowohl den einen wie auch den anderen geht es um ihre frohe Botschaft.
Wie befreiend, in dieser Tragikomödie der vorweihnachtlichen Konsumgesellschaft nicht mitzuspielen – ja, nicht mitspielen zu müssen.
Wie befreiend, in dieser Tragikomödie der vorweihnachtlichen Konsumgesellschaft nicht mitzuspielen – ja, nicht mitspielen zu müssen. Gewiss, es gibt Chanukka, aber Chanukka ist eben nicht das »jüdische Weihnachten«, wie allzu häufig und meist unreflektiert vom Weihnachtsmann behauptet wird. Und gewiss, man hat christliche Freunde und Nachbarn, die man beschenken kann, aber man muss ihretwegen nicht in Kaufrausch verfallen. Es genügt, ihnen ein frohes Fest zu wünschen.
Selbst viele Christen widersetzen sich dem zunehmenden Druck des Konsums. Gerade den Frommen unter ihnen bereitet die Kommerzialisierung des Festes ernsthafte Sorgen. Andere kommen auf Ideen wie den »Buy Nothing Day« (»Kauf-nix-Tag«) oder die »Make Something Week« (»Was-machen-Woche«).
upcycling Das eine soll »die ausbeuterischen Produktions- und Handelsstrategien internationaler Konzerne und Finanzgruppen« (so der Originalwortlaut ihrer Aktivisten) anprangern, das andere auch ein Zeichen »gegen übermäßigen Konsum« und »für Alternativen zum Shopping« setzen. So wie etwa das »Upcycling«: durch Reparatur alte Sachen in den Wirtschaftskreislauf zurückbringen.
Solche Aktionen zielen mit ihren neudeutschen Namen und ihrer verbissenen Sprache gegen andere neudeutsche Phänomene wie »Black Friday« oder »Cyber Monday«, die ihrerseits dem Handel satte Umsätze bescheren und den Auftakt bilden für die konsumfreudigste Zeit des Jahres.
Lehnen wir uns zurück und betrachten einfach das große Spiel da draußen.
Schon Sprache und Wortwahl zeigen, wie gespalten unsere Gesellschaft in Bezug auf unser aller Konsumverhalten ist. Eher beiläufig kommt die Gespaltenheit in Bezug auf alles aus Amerika Stammende hinzu (außer den Anglizismen, auf die alle sich geeinigt zu haben scheinen). Ob nun kognitive Dissonanz der Beteiligten, Massenphänomen oder schlicht Unsinn – wir können uns da getrost heraushalten.
propheten Mit gutem Gewissen: Der »Buy Nothing Day« wurde von seinen Propheten für den Tag nach dem »Black Friday« ausgerufen – und dann ist ja sinnigerweise Schabbat. Für Juden also nichts Neues: Dann sind wir ohnehin aufgefordert, einen Tag lang nichts zu kaufen und vielleicht den eigenen Konsum kritisch zu reflektieren.
Der ehemalige britische Oberrabbiner Jonathan Sacks hat deutlich gemacht, dass dies ein Tag ist, an dem wir nicht den Preis der Dinge betrachten, sondern ihren Wert. An diesem siebten Tag der Woche nehmen wir uns Zeit für Familie und Freunde, wir genießen Ruhe und Spiritualität – all das, was das Leben ausmacht und das wir nicht kaufen können. Dem widmen wir uns – einen Tag in der Woche. Seit Generationen.
Und was »Upcycling« angeht (eine Mischung aus Recycling und Upgrading): Auch das ist keine neue Idee. Im Judentum ist seit alters her die »Reparatur der Welt« als vordringliche Aufgabe für Verbesserung und Nachhaltigkeit bekannt. Sie steht permanent auf der jüdischen Tagesordnung: Tikkun Olam.
Wir können die Welt reparieren und uns zugleich emanzipiert verhalten.
extrem Wir können die Welt reparieren und uns zugleich emanzipiert verhalten. Ein Aspekt jüdischer Emanzipation unserer Zeit besteht also vielleicht im Konsumverhalten: Wir sind weder dem aggressiven Kaufrausch unterworfen, noch sind wir auf die verbissen-kreativen Gegenbewegungen angewiesen. Lehnen wir uns zurück und betrachten einfach das große Spiel da draußen, wo die einen in das eine Extrem und die anderen in das andere Extrem verfallen. Immerhin sichern jene das Wirtschaftswachstum und die anderen alles andere.
Wir sind da außen vor, ganz ohne Zwang oder Druck. Undogmatisch. Frei. Befreiend kann auch sein, sich dort entziehen zu können, wo andere sich unter Druck fühlen, sich zwischen zwei Extremen entscheiden zu müssen.
Genießen wir zu dieser Jahreszeit Chanukka als das große Wunder, das es war und ist: sich als Minderheit zu behaupten und dabei Freude zu haben – auch in der Welt des Konsums beziehungsweise der Verweigerung.
Der Autor ist Rabbiner der Budge-Stiftung in Frankfurt/Main.