Vierzig Jahre der Wüstenwanderung nähern sich dem Ende. Mosche zieht Bilanz, und programmatisch sind die Worte, die wir zu Beginn der Parascha lesen. Der Ewige hatte zu Seinem Volk gesprochen: Lange genug habt ihr jetzt an diesem Berg verweilt (Er sagt »schevet« – also eigentlich: »herumgesessen«). Es ist Zeit, weiterzugehen.
Und das Volk geht weiter. Vorangekommen ist es freilich nur langsam. Elf Tagesreisen sind es vom Choreb auf dem Weg zum Berg Seir bis Kadesch Barnea. Man hätte also, rein äußerlich betrachtet, wohl kaum vier Jahrzehnte dazu gebraucht.
Es geht aber nicht um die reine Wegstrecke, die das Volk zurücklegt, sondern um eine innere Entwicklung, und die braucht Zeit: Zeit dafür, dass sich eine Gruppe von Sklaven zu einem Volk von freien Menschen entwickelt. Bis dahin wird eine ganze Generation vergehen.
BILANZ Mosche zieht Bilanz. Für jemanden, der von sich sagt, er könne nicht gut reden, tut er dies in erstaunlich wohlgesetzten Worten. Er spricht von erfüllten Verheißungen und von solchen, deren Erfüllung noch aussteht.
»Ihr seid heute wie die Sterne des Himmels an Menge« – so war es den Erzvätern verheißen worden. Ebenso war den Patriarchen das Land verheißen worden für ihre Nachkommen – das Land, in das die Kinder Israel nun tatsächlich einziehen sollen.
Wie die Verheißung der großen Zahl erfüllt worden war, so wird auch die Verheißung der Landnahme erfüllt werden. Mosche macht ihnen weiter Mut: Schaut, sagt er, der Ewige hat auch anderen Völkern ihr jeweiliges Land zugesprochen, unantastbar auch für euch. Moaw gehört den Söhnen Moaws, Ammon den Söhnen Ammons, doch wohnten da vorher starke Krieger. Aber der Ewige hat es gefügt, dass die Moawiter und Ammoniter dieses große starke Volk besiegt haben und sie nun an deren statt in dem ihnen zugedachten Land leben können.
Genauso erhielten die Nachkommen Esaws Seir, wo zuvor die Choriter lebten; und auch diesen Besitzanspruch müsst ihr respektieren. Durch Moaw und Seir zieht also friedlich, und bezahlt die Einwohner für Lebensmittel und Wasser. Aber dann beginnt die Zeit der Eroberung. Mit Sichon, dem König von Cheschbon, sollt ihr anfangen. Ihr werdet sein Land, nämlich das der Emoriter, einnehmen. So hat es euch der Ewige verheißen.
KRIEGE Und doch hatte Mosche es erst einmal im Guten versucht und Boten zu Sichon entsandt mit der Bitte, die Kinder Israel friedlich durch das Land ziehen zu lassen, wie zuvor durch Moaw und Seir. König Sichon wollte aber nicht. So begann die kriegerische Zeit der Landnahme. Erst Sichon, dann Og von Baschan – alle diese glorreichen Siege zählt Mosche hier noch einmal auf. Die ersten Stämme erhalten bereits ihr späteres Land zugewiesen. Die Landnahme hat begonnen.
Nun ja, das hätte das Volk alles schon früher haben können; genauer gesagt, fast 40 Jahre früher, anstatt sich mit goldenen Kälbern und Beschwerden wegen der mangelnden Wasserversorgung und der vermeintlich eintönigen Ernährung aufzuhalten. Immer wieder musste sich Mosche anhören, dass in Ägypten alles viel besser gewesen sei. Wie missmutige, trotzige Kinder benehmen sie sich. Und Mosche, der sie so selbstlos anführt, wird für alles Schlechte verantwortlich gemacht. Ein Volk von Kindern, oder besser gesagt, ein Volk von Sklaven mit dem Gemüt von Kindern. Doch irgendwann wird es sogar Mosche zu viel: »Und ich sprach in selbiger Zeit zu euch also: Ich kann euch nicht allein tragen.«
40 Jahre lang hat Mosche das Volk angeführt, durch alle Gefahren und Widerstände. Aber warum darf er nun nicht selbst
mit einziehen in das verheißene Land? Was war sein Vergehen? Gab es überhaupt eins, oder hat ihn der Ewige nur beim Wort genommen, damals, als Mosche sich weigerte, das Volk wegen des Goldenen Kalbs zugrundegehen zu lassen und allein mit dem Ewigen seinen Weg weiterzugehen? Oder war es etwas ganz anderes?
40 Jahre Mag der Anlass etwa doch das Schlagen auf den Fels gewesen sein, so war die Ursache gewiss viel tiefer gehend. Mosche ist jedenfalls sehr betrübt wegen der Entscheidung des Ewigen, ihn nicht mit einziehen zu lassen in das schöne Land, von dem das Volk 40 Jahre lang geträumt hat. Er macht das Volk mitverantwortlich für diesen großen Kummer: »Auch über mich erzürnte sich der Ewige euretwegen, und sprach: Auch du sollst nicht hineinkommen.«
Mosche erwähnt dies im Zusammenhang mit der Kundschaftergeschichte, und die klingt hier ein wenig anders als im Wochenabschnitt Schelach Lecha. Dort steht: »Und der Ewige sprach: Schicke dir Männer aus, sie sollen erkunden das Land Kenaan, das ich den Kindern Israel geben werde.« Das klingt, als sei die Initiative für das Aussenden der zwölf Männer vom Ewigen ausgegangen. Hier in Dewarim lesen wir jedoch, der Ewige habe gesagt, die Kinder Israel sollten das Land einnehmen und keine Angst haben. Das Volk habe aber Bedenken entwickelt und Mosche gebeten, er solle doch erst einmal Kundschafter ausschicken. »Und die Sache war gut in meinen Augen«, sagt Mosche.
VERTRAUEN Gut in den Augen von Mosche, aber offenbar nicht gut in den Augen des Ewigen. In der Parascha Beha’alotcha, als es um die Erwählung nicht von Kundschaftern, sondern von weisen Männern zur Unterstützung von Mosche geht, macht der Wortlaut klar, dass der Ewige dieses Vorhaben auch billigt: »Versammle mir 70 Männer«, sagt der Ewige da. Hier in Dewarim klingt es aber so, als sei es Mosches eigene Idee gewesen, Richter und Beamte einzusetzen.
Es scheint, als habe es auch Mosche letztlich an Vertrauen in den Ewigen fehlen lassen. Offenbar hatte er mit dem unseligen Beschluss der Kundschafterentsendung seinerzeit Anteil am Scheitern des Einzugs nach Kenaan. Die Schuld dafür gibt er jedoch dem Volk – genauso wie es einst Aharon tat wegen des Goldenen Kalbs, und so, wie das Volk jeweils Mosche die Schuld gab an allen Problemen.
Auch Mosche ist nicht perfekt. Er ist ein Mensch, kein Übermensch. Und er zeigt sich hier eben doch als Angehöriger jener Generation, die einst als Erwachsene aus Ägypten auszogen. Die Zukunft in Kenaan aber gehört der neuen Generation.
Die Autorin ist rabbinische Leiterin des Egalitären Minjans »Mischkan ha-Tfila« in Bamberg.
Paraschat Dewarim
Mit diesem Wochenabschnitt beginnt das fünfte Buch der Tora. Er erzählt vom 40. Jahr, in dem Mosche am Ersten des elften Monats zu den Kindern Israels spricht. Sie stehen kurz vor der Überquerung des Jordans, und Mosche blickt auf die Reise zurück. Er erinnert an die schlechten Nachrichten der Spione und sagt, dass Jehoschua an seine Stelle treten wird. Dann erinnert Mosche an die 40-jährige Wanderung und die Befreiung der ersten Generation aus Ägypten. Seiner Meinung nach gehört das, was die Eltern erlebt haben, zum Schicksal ihrer Kinder. Wozu sich die Vorfahren am Sinai verpflichtet haben, ist auch für die Nachkommen bindend. Es wird bestimmt, mit welchen Völkern sich die Israeliten auseinandersetzen dürfen und mit welchen nicht. Mosches Bitte, das Land Israel doch noch betreten zu dürfen, lehnt G’tt ab.
5. Buch Mose 1,1 – 3,22