Vierzig Jahre Wüstenwanderung kommen an ihr Ende. Eine ganze Generation ist seit dem Aufbruch aus Ägypten gestorben, unter ihnen Mirjam und Aharon. Und auch Mosche wird nicht mit einziehen in das Land, das der Ewige einst den Vätern Awraham, Jizchak und Jakow sowie deren Nachkommen verheißen hat. Von jener Generation, die damals als Erwachsene aus Ägypten ausgezogen ist, werden beim Einzug in das Land nur noch Jehoschua und Kalev übrig sein. Warum gerade diese beiden?
Auch wenn die Geschichte mit den Kundschaftern in der Erinnerung von Mosche hier doch ein wenig anders klingt, als in der Parascha Schelach Lecha beschrieben, so sind es doch ohne Zweifel Jehoschua und Kalev gewesen, die von Anfang an mit Begeisterung für dieses wunderbare Land erfüllt waren. Sie vertrauten auf die Hilfe des Ewigen, dort die ersehnte Heimat für die Kinder Israels zu finden.
Freilich war zunächst die Verzagtheit des Volkes allzu groß gewesen; nicht wenige wären am liebsten sogar wieder nach Ägypten zurückgegangen. Der lange Schatten der Knechtschaft lag noch über ihnen, sodass sie zwar äußerlich frei, aber im Geist doch weiterhin gebunden waren. Erst die nächste Generation hat diese innerlichen Fesseln abgelegt. Und sie hat auch erfahren, dass Freiheit nicht nur aus Rechten, sondern auch aus Pflichten besteht, nicht nur in der Wüste, sondern gerade auch in dem Land, welches das Ziel ihrer langen Reise ist und an dessen Schwelle sie jetzt stehen.
MAHNUNG Noch aber ist der Jordan nicht überschritten. Mosche hat die Israeliten bis hierher geführt. Nun fasst er für sie die Geschehnisse der letzten Jahrzehnte zusammen, zur Erinnerung und zur Mahnung. Und er wiederholt, was er Jehoschua im Hinblick auf die zu erwartenden Auseinandersetzungen mit den Feinden aufgetragen hat: »Fürchte sie nicht, denn der Ewige, euer G’tt, ist es, der für euch streitet.«
So wie Mosche das Volk einst aus Ägypten herausgeführt hat, so wird Jehoschua es sein, der es in das versprochene Land hineinführt. So wie Mosche ist auch er in Ägypten geboren. Er weiß aus erster Hand, wie bitter das Leben in der Knechtschaft war. Und er weiß, dass es kein Zurück geben kann, was immer auch geschehen mag. Das hat er bereits als Kundschafter bewiesen.
Jehoschua wurde vom Ewigen auserwählt, Mosches Nachfolger zu werden. Und Kalev? Auch er wird mit hineinziehen ins Land, aber ohne die Bürde der Anführerschaft, die Jehoschua beschieden ist.
So formuliert es hier auch Mosche: Kalev soll das Land sehen und es besitzen, das er einst als Kundschafter bereist hat, weil er dem Ewigen treu folgt. Dieser Zusatz fehlt bei Jehoschua, aber nicht etwa, weil dieser dem Ewigen nicht vertraut hätte. Mosches Worte legen vielmehr nahe, dass Jehoschua an seiner, Mosches Stelle nicht nur das Land sehen, sondern es auch in Besitz nehmen solle für die Kinder Israels.
RÜCKBLICK Wenn Mosche in unserem Wochenabschnitt die Erfahrungen der vergangenen 40 Jahre noch einmal rekapituliert, indem er »zu ganz Israel« spricht, klingt es auf den ersten Blick so, als ob er zu jenen Menschen spräche, die mit ihm aus Ägypten ausgezogen waren. Und doch wissen wir, dass eben diese Generation mittlerweile gestorben ist.
Er richtet seine Worte also an deren Kinder, und damit bekommt das, was er sagt, eine ganz andere Bedeutung. Spräche er zu den Menschen der Wüstengeneration, dann wären dies lediglich die Erinnerungen eines Mannes, der im Rückblick auf sein Leben seiner tiefen Enttäuschung über die Verfehlungen des Volkes Ausdruck verleiht, mit dem Fokus auf das Vergangene. Aber so ist es nicht. Vielmehr stellt Mosche hier den Kindern Israels die Vergangenheit vor Augen, damit sie daraus für die Zukunft lernen, aus den Fehlschlägen ebenso wie aus den Erfolgen.
Und er richtet seine Worte auch nicht nur an jene, die in dem Moment dort vor ihm stehen, kurz vor dem Einzug ins versprochene Land, sondern mit ihnen an alle Generationen nach ihnen, le-dor va-dor, bis heute.
»Ganz Israel« bekommt damit eine viel größere Dimension, und darin kommt die zeitlose, immerwährende Gültigkeit der Tora zum Ausdruck: »Nicht mit euch allein schließe ich diesen Bund« (5. Buch Mose 29,13).
FREIHEIT Durch das Schilfmeer führte einst der Weg in die Freiheit. In der Wüste wurden die Menschen, die zusammen aus Ägypten ausgezogen waren, zu einem Volk, einer Schicksalsgemeinschaft. Mit dem Überschreiten des Jordan werden die Israeliten nun in das Land kommen, zu dem ihre Vorfahren aufgebrochen waren. Ein neuer Abschnitt der Geschichte beginnt, und es wird neue Kämpfe und Herausforderungen geben, nicht nur zu Beginn. Die Freiheit, einmal errungen, ist kein immerwährender Zustand; sie muss verteidigt werden.
Wir lesen die Parascha Dewarim am Schabbat Chason, unmittelbar vor Tischa beAw. Das verleiht den mahnenden Worten von Mosche Rabbenu, seinem ethischen Vermächtnis, besonderen Nachdruck – in vielerlei Hinsicht.
Denn Mosches Worte beschränken sich keineswegs auf das Aufzählen von Fehlschlägen, Vergehen und Versagen. Er erinnert auch an Erfolge und Siege. Die Lehren der Vergangenheit beinhalten beides, mahnende Warnung und hoffnungsvolle Ermutigung. Erinnerung darf nicht in der Vergangenheit stehen bleiben, sondern muss den Weg in die Zukunft weisen.
aufforderung Rav-lachem schevet ba-har ha-seh – »Lange genug habt ihr euch jetzt an diesem Berg aufgehalten«. Das ist auch eine Aufforderung, sich nicht entmutigen zu lassen, sein Ziel nicht resigniert aufzugeben, sondern aufzustehen und weiterzugehen, im Vertrauen auf den Ewigen.
Mosches Worte mögen sich zwar zunächst auf die Ereignisse der Wüstenwanderung beziehen, doch sie enthalten eine zeitlose Botschaft.
Gelten sie nicht gleichermaßen auch dem Weitergehen nach Schicksalsschlägen und Katastrophen, den individuellen, persönlichen des Einzelnen ebenso wie unfassbar großen, welche die ganze Gemeinschaft betreffen? »Dies sind die Worte, die Mosche gesprochen hatte zu ganz Israel.« Was lehren sie uns heute?
Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Vor der Überquerung des Jordan blickt Mosche auf die Wanderung durch die Wüste zurück. Er erinnert an die schlechten Nachrichten der Spione und sagt, dass Jehoschua an seine Stelle treten wird. Dann erinnert Mosche an die 40-jährige Wanderung und die Befreiung der ersten Generation aus Ägypten. Seiner Meinung nach gehört das, was die Eltern erlebt haben, zum Schicksal ihrer Kinder. Wozu sich die Vorfahren am Sinai verpflichtet haben, ist auch für die Nachkommen bindend. Es wird bestimmt, mit welchen Völkern sich die Israeliten auseinandersetzen dürfen und mit welchen nicht. Mosches Bitte, das Land Israel doch noch betreten zu dürfen, lehnt G’tt ab.
5. Buch Mose 1,1 – 3,22