Geschichte

Waren wir wirklich in Ägypten?

Die Frage, ob ihre Vorfahren sich einst aus Ägypten befreiten und durch die Wüste ins Heilige Land zogen, ist gerade zu Pessach für viele Juden eine reine Glaubenssache. Zum Sederabend, wenn wir uns dieses starke Epos gegenseitig erzählen, stellen wir zwar traditionell viele verschiedene Fragen – niemand käme aber auf die Idee, hier Wissenschaftler und Experten einzuladen, um die historische Belegbarkeit der Geschichte zu prüfen.

Bis in die 70er-Jahre waren kritische Nachfragen auch gar nicht sinnfällig – denn in der Bibelwissenschaft dominierten die Ansichten von William F. Albright und Ernest Wright, nach denen der Exodus ein historisches Ereignis war. Doch in den 80er-Jahren wuchs die Skepsis gegenüber dem Narrativ der israelitischen Eroberung Kanaans und der Vorgeschichte, dass die Israeliten aus Ägypten kamen. Neue Modelle kamen auf, die den Ursprung Israels als eine einheimische Entwicklung in der Region selbst erklärten.

Experten wie Israel Finkelstein oder William Dever argumentierten, es gebe weder Beweise für einen Auszug der Israeliten aus Ägypten noch für ein neues Volk, das von außerhalb Kanaans in das Land eingewandert sei.

Skepsis gegenüber der Herkunft der Israeliten aus Ägypten

Im Gegensatz zu den Bibelwissenschaftlern ist die Skepsis gegenüber der Herkunft der Israeliten aus Ägypten unter den Ägyptologen tatsächlich weniger verbreitet. Jedoch haben sie sich erst spät in die Debatte eingeschaltet und damit den Bibelwissenschaftlern das Feld überlassen. Da diese für die Arbeit mit ägyptischen Texten nicht ausgebildet sind, kam es öfter zu unbegründeten Schlussfolgerungen.

Einer der bedeutendsten unter den Ägyptologen, die sich mit dem Exodus befassten, war Kenneth Kitchen (1932–2025). Er veröffentlichte zahlreiche Standardwerke der Ägyptologie und befasste sich in seinem Meisterwerk Das Alte Testament und der Vordere Orient. Zur historischen Zuverlässigkeit biblischer Geschichte auch mit dem Topos im Konkreten.

Viele Archäologen mieden den Topos. Dabei hätten sie Spannendes entdecken können.

Gleichzeitig ist das Thema unter Archäologen nicht sehr beliebt. Einer Umfrage zufolge meiden die meisten Archäologen den Exodus, weil sie ihn für eine religiöse Frage halten, die nicht zu ihrem Fachgebiet gehört. Dennoch haben Ägyptologen wie Anson Rainey, James Hoffmeier und Peter Feinman eine Fülle von Material zusammengetragen, das den Exodus als historisch belegt.

Passen die biblischen Beschreibungen in das Gesamtbild des alten Ägypten im 13. Jahrhundert v.d.Z.?

Sie untersuchten den historischen Hintergrund, die Beschreibung der Umwelt, Sitten und Gebräuche, religiöse und königliche Ideologien, die Verwendung ägyptischer Wörter und geografische Ortsangaben im Tanach. Und sie stellten sich die offensichtliche Frage: Passen die biblischen Beschreibungen in das Gesamtbild des alten Ägypten im 13. Jahrhundert v.d.Z. zur Zeit Ramsesʼ II.?

In der Tat gibt es keine direkten Spuren von Israeliten im östlichen Nildelta zur Zeit Ramsesʼ II. Das ist nicht verwunderlich, denn im Gegensatz zum regenlosen Süden Ägyptens fallen im Norden jährlich 200 Millimeter Niederschlag, und der Nil überschwemmt die Region jedes Jahr. Aufgrund der Feuchtigkeit wurden in dieser Region nie Papyrusrollen gefunden – sie hätten sich längst aufgelöst. Ähnlich ist es mit den Überresten von möglichen Sklavenarbeitern.

Dennoch ist die Anwesenheit von ausländischen Sklaven gut dokumentiert. Während der jährlichen Nilüberschwemmungen wurden ägyptische Landarbeiter gezwungen, in den Steinbrüchen zu arbeiten. Die Situation änderte sich ab dem 15. Jahrhundert v.d.Z., als Gefangene aus Kanaan und Syrien für Bauarbeiten eingesetzt wurden.

Für seine zahlreichen Projekte ließ Ramses II. sogar ausländische Sklaven fangen. In der Grabkammer des hohen Beamten Rekh-Me-Ra finden sich Darstellungen von semitischen Zwangsarbeitern, die unter ägyptischer Aufsicht mit einer Rute Ziegel für die Vorratslager herstellen. Genau das finden wir in der Tora: Die Aufseher schlagen die Israeliten, damit sie ihre Rate erfüllen.

Ein weiteres interessantes Zeitdokument ist eine Lederrolle aus der Zeit Ramsesʼ II. Sie enthält eine Liste von 40 Aufsehern und deren Tagesquote von 2000 Ziegeln. Einer der Aufseher wird kritisiert, weil seine Sklaven die Rate nicht erfüllen konnten. Er beschwert sich mit den Worten: »Hier ist niemand, der Ziegel schlägt, und es gibt auch kein Stroh.« Daraufhin werden die Sklaven geschlagen.

Wäre die Exoduserzählung ein Produkt des babylonischen Exils, dann wüssten die Autoren nichts von der Verwendung von Stroh

Stroh spielte bei der Ziegelherstellung in Ägypten eine wichtige Rolle, da es verhinderte, dass die Ziegel beim Trocknen schrumpfen. Wäre die Exoduserzählung ein Produkt des babylonischen Exils, dann wüssten die Autoren nichts von der Verwendung von Stroh, denn die Babylonier brannten ihre Ziegel und trockneten sie nicht in der Sonne wie die Ägypter. Die Babylonier verwendeten also kein Stroh. Auch in Kanaan und Israel wurde kein Stroh verwendet, da dort keine Ziegel, sondern Steine verwendet wurden. Ein Hinweis, dass die Verfasser der Exodusgeschichte sich mit der ägyptischen Bauart bestens auskannten.

Oft wird übersehen, dass Mosche für die israelitischen Sklaven nur eine Auszeit von der harten Arbeit fordert (2. Buch Mose 3,18). Von einem Abschied ohne Rückkehr ist an keiner Stelle die Rede. Erst als der Pharao später erfährt, dass die Israeliten geflohen sind, folgt er ihnen mit seinem Heer. Was zunächst wie eine dreiste Forderung klingt, erweist sich in einer Abwesenheitsliste von Arbeitern aus der Zeit Ramsesʼ II. als gängige Praxis. In dieser Liste heißt es: Ein Arbeiter fehlt, weil er von einem Skorpion gestochen wurde, ein anderer, weil seine Mutter krank ist. Wieder ein anderer, weil er an religiösen Feierlichkeiten eines Gottes teilnimmt. Es war also nicht ungewöhnlich, aus religiösen Gründen Urlaub zu nehmen, wie es Mosche vom Pharao verlangte. Der Pharao lehnte ab, weil er den Gott der Israeliten nicht kannte (2. Buch Mose 5,2).

Einige Bibelwissenschaftler haben vermutet, dass die Geografie des Exo­dus ein Mythos ist, der von späteren Autoren in ein historisches Gewand gekleidet wurde (Ahlström), andere (Finkelstein) argumentierten, dass die Geografie im 6. Jahrhundert v.d.Z. anzusiedeln ist.

Im Tanach werden Städte erwähnt, die auf eine bestimmte Epoche schließen lassen.

Die ägyptischen Quellen zeichnen jedoch ein anderes Bild. Statt von Pyramiden, dem Wahrzeichen Ägyptens, berichtet die Tora, wie die Israeliten am Bau von zwei Städten beteiligt waren, Pithom und Ramses (2. Buch Mose 1,11). Ramses wird heute als Pi-Ramesse, arabisch Qantir, identifiziert. Pi-Ramesse wurde 1270 v.d.Z. von Ramses II. als Hauptstadt Ägyptens erbaut.

Doch schon 200 Jahre später versiegte der Nilarm, der die Stadt mit Wasser versorgte, und die Ägypter verlegten die Stadt in das 30 Kilometer entfernte Tanis. Dabei recycelten sie die Überreste von Pi-Ramesse samt Statuen und Inschriften, sodass französische Archäologen von 1928 bis 1980 fälschlicherweise annahmen, Tanis sei Pi-Ramesse.

Die Exodusgeschichte kann nicht nach 1070 v.d.Z. entstanden sein, da sie die Kenntnis der Stadt Pi-Ramesse voraussetzt

Aber nicht nur die Franzosen wurden getäuscht: Wenn der Psalmist in 78,12 den Auszug aus Ägypten besingt und die Plagen aufzählt, hält er Zoan (der hebräische Name für Tanis) für den Ort des Geschehens. Er identifiziert Ramses mit Tanis, weil es zu seiner Zeit die ägyptische Hauptstadt war. Pi-Ramesse existierte damals schon seit 300 Jahren nicht mehr, sodass er es nicht kannte und eine falsche Annahme traf. Dies wiederum spricht für das hohe Alter der Exodusgeschichte, die nicht nach 1070 v.d.Z. entstanden sein kann, da sie die Kenntnis dieser Stadt voraussetzt.

Das wahre Pi-Ramesse wurde erst 1950 entdeckt. In den letzten 30 Jahren haben deutsche Archäologen unter der Leitung von Edgar Pusch (1946–2023) durch magnetische Messungen die Struktur einer 15 Quadratkilometer großen Stadt mit Palast- und Stallanlagen freigelegt. Es handelt sich um die größte Stadt des antiken Mittelmeerraums.

Von Ägypten aus gibt es zwei Wege nach Kanaan: durch die Wüste nach Beer Sheva (diesen Weg nahm Hagar, als sie vor Sara nach Ägypten floh) oder nördlich entlang der Mittelmeerküste durch die Städte der Philister, Rafah und Gaza. Von diesem nördlichen Weg heißt es im 2. Buch Mose 13,17: »Gott führte sie nicht den Weg durch das Land der Philister, der am nächsten war; denn Gott dachte, es könnte das Volk gereuen, wenn sie Kämpfe vor sich sähen, und sie könnten wieder nach Ägypten umkehren.«

Was wäre ihnen auf diesem Weg begegnet? Im Karnak-Tempel befindet sich ein Relief von Ramsesʼ Vater Sethos I. Es zeigt vier ägyptische Festungen, die jeder Reisende hätte passieren müssen. 1999 wurde eine Festung mit 800 Meter langen und vier Meter dicken Mauern ausgegraben, mit Statuen und Ortsnamen, die mit dem Relief in Karnak übereinstimmen. 2007 wurde eine weitere Festung mit zehn Meter dicken Mauern entdeckt. Mit anderen Worten: Dieser Weg war schwer bewacht, und es wäre für die Israeliten Selbstmord gewesen, ihn als Fluchtroute zu wählen.

Die Exoduserzählung enthält 26 ägyptische Lehnwörter, die mehr als 333-mal vorkommen

Die Tora ist aber nicht nur mit der ägyptischen Geografie vertraut, sondern auch mit der Sprache. Die Exoduserzählung enthält 26 ägyptische Lehnwörter, die mehr als 333-mal vorkommen, das sind zwei Prozent aller Lexeme des Buches. So besteht zum Beispiel der folgende Vers nur aus Lehnwörtern: »Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästlein von Rohr für ihn und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils« (2. Buch Mose 2,3). Selbst der Name Mose ist ägyptischen Ursprungs und bedeutet »Sohn von«. Es sind mehrere Personen mit diesem Namen belegt, er ist auch Bestandteil von Pharaonennamen wie Amenmose, Ramose, Ahmose und Thutmose.

Ramses II. regierte Ägypten 66 Jahre lang, er überlebte zwölf seiner Söhne, Merenptah, der 13., wurde sein Nachfolger. Er unternahm einen Feldzug nach Syrien und Kanaan, wo er unter anderem die Städte Aschkelon und Gezer unterwarf. Auf einer Stele, einem Steinpfeiler, den er errichten ließ, findet sich der erste außerbiblische Beleg für den Namen Israel und der einzige aus Ägypten. Ironischerweise rühmt sich der Merenptah der Vernichtung Israels mit den Worten: Israel ist verwüstet; sein Samen ist nicht mehr. Heute können wir getrost sagen: Merenptah ist vernichtet, sein Samen ist nicht mehr.

Die Exodusgeschichte widerspricht nicht unserem Wissen über die Ramessidenzeit, sie passt in vielen Details, und jedes Jahr kommen neue archäologische Funde hinzu.

Der Autor ist Rabbiner und unterrichtet an einer Schule in Berlin.

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