Medizinische Tests, mit denen bestimmte Erbkrankheiten vor der Geburt ausgeschlossen werden können, werden immer sicherer, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen liegt die Genauigkeit der Vorhersage annähernd bei 100 Prozent, zum anderen entfallen Risiken der früher noch üblichen Fruchtwasseruntersuchung, durch die – wenn auch selten – eine Fehlgeburt ausgelöst werden kann. Behindertenverbände laufen Sturm gegen diese neuen Verfahren, weil sie befürchten, damit werde Ausgrenzung befördert.
Auch die katholische Kirche ist grundsätzlich gegen solche pränatalen Untersuchungen auf Fehlbildungen, die nicht medizinisch behandelt werden können. Schwangerschaftsabbrüche lehnt sie bis heute kategorisch ab. Aus halachischer Sicht ist gegen derartige Testmethoden jedoch nichts einzuwenden.
Risikoschwangerschaft Früher fand bei »Risikoschwangeren« das Verfahren der Amniozentese Anwendung: Mit einer feinen, langen Nadel stach der behandelnde Arzt durch die intakte Bauchdecke der werdenden Mutter bis ins Fruchtwasser. Daraus wurden Zellen entnommen und auf Chromosomenstörungen untersucht. Hauptsächlich ging es bei der Untersuchung um die Trisomie 21 (Down-Syndrom).
Dies geschah vor dem Hintergrund, dass das Risiko für das Ungeborene mit zunehmendem Alter der Frau ansteigt, besonders ab 35 Jahren; darüber hinaus vor allem dann, wenn es in der Familiengeschichte oder bei früheren Schwangerschaften bereits ähnliche »Fehler« in der Erbanlage gab.
Die Amniozentese wurde bereits deutlich seltener eingesetzt, seit die Chorionzottenbiopsie zur Verfügung stand. Hierbei werden Bestandteile (Zotten) der Plazenta entnommen, in denen sich sowohl mütterliche als auch embryonale Zellen befinden. Das Verfahren ist ebenfalls invasiv, kann aber bereits in einer früheren Schwangerschaftsphase Anwendung finden. Neben Chromosomenstörungen gibt die Chorionzottenbiopsie zum Beispiel auch Aufschluss über einige Stoffwechselerkrankungen.
Mittlerweile kann auf Wunsch der werdenden Eltern mittels Ultraschall die Nackenfaltenmessung vorgenommen werden, eine risikolose Untersuchung. Ein verdickter Nacken des Ungeborenen weist darauf hin, dass sich Wasser eingelagert hat, etwa durch einen Herzfehler oder wegen eines chromosomalen Defektes. Diese Methode ist jedoch nur ein erster Suchtest, bei Auffälligkeiten ist dann einer der genannten eingreifenden Tests angezeigt. Zudem hat sie den Nachteil, lediglich – recht unsichere – statistische Anhaltspunkte zu liefern.
Seit rund einem Jahr sind auch in Deutschland Tests auf dem Markt, mit denen gefahrlos das Blut von schwangeren Frauen untersucht werden kann. Darin »schwimmen« Bruchstücke des kindlichen Erbguts. Mit diesem Verfahren wird festgestellt, ob eine Trisomie (dreifacher statt doppelter Chromosomensatz) vorliegt, etwa eine Trisomie 13, 18 oder 21. Die meisten Chromosomenstörungen haben schwere Behinderungen zur Folge.
Trisomie Die neuen Blutuntersuchungen weisen eine sehr hohe Sicherheit auf: In weniger als einem Prozent wird eine Trisomie übersehen, auch »falschen Alarm« gibt es nur äußerst selten. Eine invasive Diagnostik ist so gut wie immer überflüssig. Beratung und Blutentnahme erfolgen beim Arzt, der die Probe an ein Labor des Herstellers einschickt. Ebenso wie die Nackenfaltenmessung wird der Bluttest allerdings nicht von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt. Die Hersteller haben unterdessen ihre Preise deutlich gesenkt, dennoch liegen die Kosten im Durchschnitt immer noch bei etwa 800 Euro.
Trotz aller medizinischen Vorteile sind diese Bluttests jedoch umstritten, Kritiker sprechen von einem bedenklichen Paradigmenwechsel. Auch ein Kind mit Down-Syndrom (früher reichlich gedankenlos und unkorrekt als »Mongolismus« bezeichnet) sei schließlich lebens- und liebenswert. Und da keinerlei Therapie zur Verfügung stehe, werde die Zahl der Fälle steigen, in denen sich die werdende Mutter nur noch zwischen dem Leben mit einem Behinderten und einem Schwangerschaftsabbruch entscheiden kann.
Das Argument von Behindertenvertretern, mit pränataler Diagnostik werde der gesellschaftliche Druck auf Schwangere erhöht, nur noch gesunde »Designerbabys« auszutragen, ist allerdings nicht neu – schon bei der Einführung der Amniozentese wurden diese Bedenken vorgebracht.
euthanasie Dass in Deutschland mit seiner besonderen Geschichte (»unwertes Leben«) überaus sensibel reagiert wird, ist allzu verständlich. Dabei wird jedoch der Unterschied zwischen staatlich verordneter Euthanasie und der freien, individuellen Entscheidung eines Paares mit Kinderwunsch völlig außer Acht gelassen.
Der Behauptung, insgesamt bringe die einfache und leicht zugängliche Diagnostik eine deutlich größere Zahl an Abtreibungen mit sich, hält Professor Klaus Vetter, ehemals Leiter der Perinatalmedizin im Berliner Vivantes-Klinikum Neukölln, entgegen, dass es mit den älteren, weniger aussagekräftigen Methoden mitunter zur Fehlgeburt kam, obwohl das Kind gesund war: »Wir haben so pro Jahr mehrere Hundert Babys verloren.« Je spezifischer ein Test sei, desto geringer sei auch dieses Risiko.
Vetter ist weiterhin Mitglied der Gendiagnostik-Kommission des Bundes. Nach dem deutschen Gendiagnostik-Gesetz sind derlei Untersuchungen nur erlaubt, wenn ihnen eine Beratung durch einen qualifizierten Arzt oder einen Humangenetiker vorausgeht und nach Vorliegen des Ergebnisses ein intensives Gespräch stattfindet. Die Gefahr, dass sich Schwangere den Test im Internet kaufen und ohne Beratung und Abwägung anonym auswerten lassen, bestehe folglich – jedenfalls in Deutschland – nicht.
Die jüdische Ethik unterscheidet sich von der christlichen, vor allem der katholischen, in einem Punkt fundamental – nämlich in der Definition, ab wann Leben beginnt. Der Fötus hat noch keine »Rechte«, die »Beseelung«, das Leben, beginnt quasi beim ersten Atemzug. Vorgeburtliche Untersuchungen sind in Israel ohne Einschränkungen anerkannt und weitgehend Normalität.
So wird zum Beispiel bei heiratswilligen Paaren besonders auf das Tay-Sachs-Syndrom hin untersucht, das bei der aschkenasischen Bevölkerung deutlich gehäuft vorkommen kann. Die angeborene Tay-Sachs-Krankheit geht mit schwerer Intelligenzminderung, zunehmender Muskelschwäche und Erblindung einher. Paare in Israel haben selbstverständlich weiterhin die freie Entscheidung. Es wird ihnen aber wohl eher davon abgeraten, ein derart erkranktes Kind auszutragen.
»rodef« Immer geht, halachisch gesehen, das Leben der Mutter dem des Ungeborenen vor. Rabbiner Walter Rothschild, Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz, weist darauf hin, dass ein Fötus, der seine Mutter bedroht, ein »Rodef« (hebräisch für Jäger) ist. »Man darf ihn töten, damit nicht er die Mutter tötet«, sagt er. Rothschild verweist unter anderem auf Exodus 21, Vers 22, wonach die Tötung eines Ungeborenen mit Geldstrafe bewehrt (als Wiedergutmachung dafür, was der Mutter angetan wurde), aber kein Kapitalverbrechen ist.
Schwangerschaftsabbrüche aufgrund körperlicher Behinderungen des Fötus sind laut jüdischer Ethik absolut zulässig. Der liberale Landesrabbiner bezieht dies auch auf seelische Belastungen, etwa wenn die Frau vergewaltigt wurde oder aus einem anderen Grund das Kind nicht haben will. Rothschild räumt allerdings ein, dass hier in den Auffassungen zwischen Liberalen und Orthodoxen zumindest graduelle Unterschiede bestehen.
Was bedeutet es zum Beispiel, dass die Entbindung bei der Frau eine Depression auslösen würde? Sicherlich würden die meisten Rabbiner eine zeitweilige Verstimmung nicht als ausreichenden Grund akzeptieren, wie sie im Übrigen bei vielen Müttern auftreten kann (»Wochenbett-Depression«). Wenn allerdings Suizidgefahr besteht, wird die Einigkeit dagegen größer sein.
künstliche befruchtung Auch der neue Bluttest stellt somit aus jüdischer Sicht kein Problem dar. Eher ist die Anwendung solcher medizinisch-technischer Neuerungen im Sinne der Verantwortung für das Leben fast so etwas wie eine Pflicht. Eine Parallele stellt die hierzulande heftig umstrittene Präimplantationsdiagnostik dar, die Untersuchung im Zusammenhang mit »künstlicher Befruchtung« vor der Einpflanzung in den Mutterleib. Sie ist nach jüdischer Auffassung nicht nur zulässig, sondern nachgerade geboten, nicht zuletzt, weil sie ungewollt kinderlosen Paaren zu gesundem Nachwuchs verhilft. Übrigens hat auch der Deutsche Ethikrat in einem Sondervotum festgestellt, er sehe keine Anzeichen für »Fehlentwicklungen« durch Bluttests.
Bleibt allenfalls die Frage, ob eine deutliche Ausweitung der pränatalen Diagnostik auf eine große Zahl werdender Mütter außerhalb der Definition »Risikoschwangerschaft« anzunehmen ist. Allerdings lassen heute schon die meisten – durchaus auch jungen – Frauen die Nackenfaltenmessung vornehmen. Vorauszusehen ist, dass durch Bluttests künftig weitere Krankheiten vorgeburtlich festgestellt werden können, von denen einige mit nur geringfügiger Behinderung einhergehen – die Diskussion in Deutschland wird also immer wieder aufflammen. Dennoch wird sich diese Entwicklung kaum aufhalten lassen.
Die Garantie für ein kerngesundes Kind wird es trotz aller diagnostischen Fortschritte wahrscheinlich nie geben. So obliegt es ganz persönlicher Entscheidung, ob Frauen und ihre Männer sich gegen alle möglichen Risiken absichern oder doch einfach nur »guter Hoffnung« sein wollen.
Der Autor ist Medizin- und Wissenschaftsjournalist.