Talmudisches

Wahre und falsche Frömmigkeit

Ein Frommer sollte stets die Auswirkungen seines Handelns im Blick haben. Was auf den ersten Blick gut erscheint, mag in der Praxis negative Folgen haben und daher zu unterlassen sein. Foto: Getty Images/iStockphoto

Im zentralen Achtzehngebet bitten wir unter anderem um das Wohlergehen der Zaddikim und Chassidim. Beter sollten wissen, welche Leute damit gemeint sind. Im Siddur Schma Kolenu lautet die Übersetzung der beiden hebräischen Begriffe »Gerechte« und »Fromme«.

Der Gerechte (Zaddik) erfüllt sorgfältig alle Gebote der Tora; der Fromme (Chassid) begnügt sich nicht mit dem, was von jedem Juden verlangt wird, sondern geht darüber hinaus.

Da ein Chassid mehr zu tun bereit ist, als die Tora von ihm verlangt, muss er die Vorschriften (Dinim) und Bräuche (Minhagim) der jüdischen Religion sehr gut kennen. Ohne Wissen um die Grenzen des Gesetzes wird er außerordentliche Leistungen gar nicht zu schätzen wissen, und religiös Wertloses mag ihm mitunter bedeutsam erscheinen.

Der Tannait Hillel lehrt, dass ein Ununterrichteter (hebräisch: Am HaAretz) kein Chassid sein kann (Sprüche der Väter 2,6).

Der Tannait Hillel lehrt, dass ein Ununterrichteter (hebräisch: Am HaAretz) kein Chassid sein kann (Sprüche der Väter 2,6).

Schritte Wie erreicht man die hohe Stufe der Frömmigkeit (Chassidut)? In einer Baraita (Avoda Sara 20b) benennt Rabbi Pinchas Ben Jair die Schritte, die zum Ziel führen: Tora, Achtsamkeit, Standfestigkeit, Lauterkeit, Zurückhaltung, Reinheit und schließlich Chassidut. Der Ramchal, Rabbi Mosche Chajim Luzzatto (1707–1746), beschreibt in seinem Werk Messilat Je­scharim (Weg der Geradlinigen) sehr ausführlich die genannten Stufen.

Auf die Tatsache, dass es eine falsche Frömmigkeit gibt, die es unbedingt zu vermeiden gilt, hat schon die Mischna (Sota 3,4) warnend hingewiesen. Sie zählt den törichten Frommen (Chassid schoteh) zu den Zerstörern der Welt. Im Talmud (Sota 21b) finden wir folgende Erklärung: »Wer ist ein Chassid schoteh? Der eine Frau im Wasser ertrinken sieht und sagt, es sei unschicklich, diese (nackte) Frau anzuschauen und zu retten.«

Die Tosafot zu dieser Talmudstelle führen ein Beispiel aus dem Jerusalemer Talmud an: »Ein Mann sieht im Fluss ein ertrinkendes Kind und spricht: ›Sobald ich meine Tefillin abgelegt habe, werde ich es retten.‹ Bis er die Gebetsriemen abgelegt hatte, war das Kind tot.« Was als fromme Tat ausgegeben wurde, erwies sich in beiden Fällen als schwere Sünde (unterlassene Hilfeleistung).

Rabbiner Luzzatto bringt Beispiele dafür, dass sogar bedeutende Männer der jüdischen Geschichte bei der Abwägung von Tun und Lassen falsche Entscheidungen trafen.

Handeln Maimonides, der Rambam (1138–1204), erwähnt die oben zitierte Mischna in seinem halachischen Kodex (Hilchot Arachin VeCharamin 8,13). Er lehrt, dass man nicht sein gesamtes Vermögen für einen guten Zweck weggeben darf. »Ein solches Verhalten ist keine Chassidut, sondern Dummheit. Denn dieser Mensch verliert sein Geld und wird dann selbst auf die Hilfe anderer angewiesen sein.« Auch dieses Beispiel zeigt uns, dass wahre Frömmigkeit wohldurchdacht sein muss. Ein Chassid sollte stets mögliche Auswirkungen des eigenen Handelns erwägen. Was auf den ersten Blick gut erscheint, mag in der Praxis negative Folgen haben und daher zu unterlassen sein.

Rabbiner Luzzatto bringt Beispiele dafür, dass sogar bedeutende Männer der jüdischen Geschichte bei der Abwägung von Tun und Lassen falsche Entscheidungen trafen. Als tragisch kann man die Geschichte von Gedalja Ben Achikam bezeichnen: »Wegen seiner großen Frömmigkeit wollte er Jischmael nicht schlecht beurteilen und keine üble Nachrede (Laschon hara) über ihn hören.

Daher rief er Jochanan Ben Kareach zu: ›Du sprichst eine Lüge aus über Jischmael‹ (Jirmejahu 40,16). Und was war die Folge? Gedalja wurde ermordet, Israel geriet in die Verbannung, und der letzte Funke des nationalen Lebens erlosch.« Zur Erinnerung an jene Begebenheiten haben unsere Weisen für den Tag seiner Jahrzeit (3. Tischri) einen Fastentag, Zom Gedalja, festgelegt.

Chassidut war und bleibt für einzelne Juden ein hehres Ziel. Doch gerade diese Männer dürfen die Gefahr der falschen Frömmigkeit nie aus dem Blick verlieren.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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