Talmudisches

Wahre und falsche Demut

Foto: Getty Images/iStockphoto

In der letzten Mischna im Traktat Sota findet man eine verblüffende Feststellung: »Mit dem Tod Rabbis hörten Demut (hebräisch: Anawa) und Sündenscheu auf.« Manche Forscher meinen, dieser Satz sei erst nach Redaktionsschluss in den Text der Mischna eingefügt worden – diese nicht uninteressante Frage soll uns hier aber nicht beschäftigen.

In der Gemara wird berichtet, dass ein babylonischer Amoräer einen schwerwiegenden Einwand erhob, als der oben zitierte Satz im Lehrhaus zur Sprache kam: »Rav Josef sprach zum vortragenden Jünger: Trage nicht den Passus von der Anawa vor, denn ich bin ja da!« (Sota 49b). Raschi (1040–1105) erläutert Rav Josefs Argument: »Ich bin demütig, und daher kann jene Aussage nicht richtig sein.«

Talmud Lazarus Goldschmidt (1871–1950), der den Talmud ins Deutsche übersetzt hat, erklärt in einer Fußnote: »Rav Josef war blind, auch hatte er das Missgeschick, infolge einer Krankheit sein Studium zu vergessen, und aus diesem Grund wird er wohl seine Demut hervorgehoben haben.« Allerdings drängt sich kritischen Lesern die Frage auf: Darf jemand sich selbst Anawa bescheinigen – zeugt eine solche Selbstbeschreibung nicht vielmehr von Hochmut?

In der Schrift heißt es: »Es rühme dich der andere, nicht dein Mund« (Mischle 27,2). Im Fall von Rav Josef können wir annehmen, dass er praktisch gezwungen war, seinen Einwand vorzutragen. Warum sah er sich veranlasst, eine Korrektur zu verlangen? Damit in der Mischna keine falsche Behauptung stehen bleibt. Es ging dem Amoräer sicher nicht um Eigenlob, sondern lediglich um die Richtigstellung eines wichtigen Sachverhalts: Anawa hat mit dem Tod Rabbis nicht aufgehört!

Wahre Anawa bedeutet keineswegs, dass jemand seine Errungenschaften und den eigenen Rang nicht genau kennt. Über Mosche Rabbenu steht in der Tora: »Und der Mann Mosche war äußerst demütig, mehr als alle Menschen, die auf der Erdenfläche leben« (4. Buch Mose 12,3). Dabei war Mosche sich, wie Rabbiner Jakob Zwi Mecklenburg (1785–1865) in seinem Kommentar zu diesem Vers bemerkt, seiner hervorragenden Eigenschaften durchaus bewusst.

Das Gegenteil von Demut ist Stolz.

Der größte aller Propheten hat jedoch nie herablassend auf seine Volksgenossen geblickt; er schätzte die Israeliten und setzte sich, wie die Tora berichtet, wiederholt für sie ein.

charaktereigenschaft Das Gegenteil von Demut ist Stolz – vor dieser Charaktereigenschaft sollte ein Mensch sich hüten! Der eigenen Leistungen im Geschäftsleben oder in der Wissenschaft darf man sich durchaus bewusst sein; es wäre heuchlerisch, das mit viel Mühe Erreichte herunterzuspielen. Aber niemand sollte die Tatsache vergessen, dass ohne Gottes Hilfe der erzielte Erfolg nicht möglich gewesen wäre!

Die Tora ermahnt uns: »Bleib eingedenk des Ewigen, deines Gottes, dass Er es ist, der dir Kraft gibt, Vermögen zu schaffen« (5. Buch Mose 8,18). Der demütige Mensch weiß um seine lebenslange Abhängigkeit von Gott, der seine Existenz ermöglicht und fördert.

Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888) hat darauf aufmerksam gemacht, dass es auch eine verkehrte Form der Anawa gibt. Er spricht von einer »falschen Demut, die, um nicht wirken zu brauchen, sich nur schwach fühlt und unkräftig erschlafft«. Unter normalen Bedingungen kann in Wirklichkeit jeder Mensch segensreich handeln und mit Gottes Beistand etwas zur Verbesserung der Welt beitragen – der eine auf diesem Gebiet, der andere auf jenem.

Rabbiner Chaim Kaniewski (1928–2022) bezeichnete Anawa als ein bewährtes Heilmittel für sehr viele Probleme, die in unserer Zeit zu beobachten sind. Mehr denn je brauchen wir heute eine Erziehung zur Demut.

Militärseelsorge

Militärrabbiner Ederberg: Offenes Ohr für Soldaten im Norden

Arbeit bei der Bundeswehr sei Dienst an der Gesellschaft insgesamt, den er als Rabbiner gerne tue, sagt Ederberg

 11.03.2025

Fest

Mehr als Kostüme und laute Rasseln: Purim startet am Donnerstagabend

Gefeiert wird die Rettung der Juden vor der Vernichtung durch die Perser

von Leticia Witte  11.03.2025

Tezawe

Kleider, die die Seele formen

Was es mit den prächtigen Gewändern der Hohepriester auf sich hat

von Rabbiner Jaron Engelmayer  07.03.2025

Talmudisches

Heilen am Schabbat

Was unsere Weisen über Notfälle und Pikuach Nefesch lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  07.03.2025

Meinung

Übersehene Prophetinnen

Zum Weltfrauentag fordert die Rabbinatsstudentin Helene Braun mehr Sichtbarkeit für jüdische Vorreiterinnen

von Helene Braun  06.03.2025

Truma

Der tragbare Sinai

Warum das Stiftszelt kein heiliger, aber ein geheiligter Ort ist

von Chajm Guski  28.02.2025

Neuauflage

Ein antizionistischer Zionist

Das Denken des deutsch-jüdischen Religionsphilosophen Isaac Breuer lässt sich nun gründlicher erschließen

von Yizhak Ahren  28.02.2025

Talmudisches

Größe und Demut

Was unsere Weisen über einen wichtigen Zusammenhang lehren

von Yizhak Ahren  28.02.2025

Psychologie

Hatte Schaul eine bipolare Störung?

Schon die Tora berichtet davon, dass Menschen dunkle Gedanken haben können. Es ist eine Mizwa, sich um die eigene mentale Gesundheit zu kümmern

von Sophie Bigot Goldblum  28.02.2025