Warum sollten wir uns für eine Impfung gegen Corona entscheiden? Wer kann uns zwingen, die Immunisierung zu akzeptieren? Eine Impfung gegen das Coronavirus ist derzeit nicht vorgeschrieben. In den Medien wird viel darüber diskutiert, vor allem über die Fälle, in denen jemand wegen einer fehlenden Impfung von einer Veranstaltung ausgeschlossen oder diskriminiert wird.
Die Impfpflicht ist zu einer politischen Frage geworden. Viele Ärzte und Experten sind der Meinung, dass sich das Coronavirus nicht weiter ausbreiten kann, wenn alle Menschen geimpft werden. Eine Impfung schützt nicht nur uns selbst, sondern auch die Menschen um uns herum. Schritt für Schritt werden wir unsere Freiheit zurückgewinnen können. Aber sollten wir es nicht für alle verpflichtend machen, angesichts der positiven Folgen für die Allgemeinheit?
ABWÄGUNG Die Impfpflicht ist ein sehr sensibles Thema. Von christlich orientierten Parteien hätte ich bei der Abwägung zwischen dem Interesse der Allgemeinheit und den prinzipiellen Einzelinteressen einen biblischeren Ansatz erwartet. Es steht mir zwar nicht zu, mich in die individuelle religiöse Lebenswelt von Menschen einzumischen, die eine andere Bibelauslegung haben als ich; dennoch kann ich nicht schweigen angesichts einer mehr als 3333 Jahre alten jüdisch-biblischen Tradition, aus der sich eine Impfpflicht eindeutig ableiten lässt, insbesondere im Falle einer Pandemie, die viele Menschen töten oder zu lebenslangen Opfern machen könnte.
Zwangsimpfungen und religiöse Gegenargumente sind eine Frage des Prinzips. Praktische Argumente wie die Überlegung, dass »Zwang nicht hilft und sogar nach hinten losgehen könnte«, sollten in der Politik berücksichtigt werden, sind aber für eine theologische Grundsatzdiskussion irrelevant.
Im 5. Buch Mose 30,19 gibt es eine bemerkenswerte Stelle: »Heute nehme ich Himmel und Erde zu Zeugen gegen dich, Leben und Tod stelle ich vor dich, Segen und Fluch; wähle das Leben.« Obwohl wir die freie Wahl haben, weist uns die Bibel unmissverständlich an, das Leben zu wählen. In Verbindung mit anderen Versen deutet dieser Abschnitt darauf hin, dass selbst eine teilweise Beeinträchtigung des körperlichen Lebens vermieden werden muss.
HEILUNG In dem Abschnitt, der sich mit den Vorschriften über das Leben des Nächsten befasst (2. Buch Mose 21,18 ff.) wird die Verursachung von Körperverletzungen erörtert; dort ist eindeutig geregelt, dass der Angreifer »für die Heilung sorgen« muss. Wenn jemand einwenden möchte, dass das bei einer von G’tt gesandten Krankheit anders ist, dann empfehle ich ihm die Lektüre der Bibelstelle im 3. Buch Mose 18,5: »Du sollst meine Satzungen und Verordnungen beachten; wer sie befolgt, wird leben«, woraus der Talmud, die schriftliche Quelle der jüdischen Tradition ableitet, dass »man – wenn man die Bibel befolgt – nicht sterben darf«.
Argumente wie »Zwang hilft nicht« sind für eine theologische Diskussion irrelevant.
Maimonides (1135–1204), der selbst Arzt war, fügt hinzu, dass die biblischen Vorschriften niemals darauf abzielten, die Welt zu zerstören; im Gegenteil, »die Gesetze der Bibel sind ein Ausdruck von Barmherzigkeit, Liebe und Frieden«. Maimonides nennt eine andere Auslegung Ketzerei und Grausamkeit. Der Satz »Du sollst deinen Nächsten nicht töten« im 3. Buch Mose 19,16 ist oft falsch übersetzt worden. Traditionell bedeutet er: »Du sollst nicht tatenlos zusehen, wie ein anderer – auch deine eigenen Kinder – ins Verderben stürzt«, eine Folge von »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (3. Buch Mose 19,18).
Übertragen auf die Gegenwart bedeutet dies ein präventives Eingreifen im medizinischen Bereich. In der Diskussion um die Verantwortung der Eltern haben sich mehrere Ethiker für Zwangsmaßnahmen ausgesprochen, wenn Eltern über die Köpfe der Kinder hinweg zu deren Nachteil entscheiden. Der Bibel zufolge ist die Autorität der Eltern nicht gegeben, wenn die körperliche Unversehrtheit der Kinder bedroht ist.
Das Gebot »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren« weist Kindern eine Fürsorgepflicht gegenüber ihren Eltern zu, aber in der jüdischen Tradition wurde es nie als Recht der Eltern verstanden, in die Privatsphäre ihrer Kinder einzugreifen. So können Eltern beispielsweise nicht bestimmen, wen ihre Kinder heiraten, und müssen stets deren Interessen in den Vordergrund stellen. Im talmudischen Scheidungsrecht steht das Wohl der Kinder an erster Stelle, und schon vor 2000 Jahren wurden die Kinder befragt, bei welchem Elternteil sie sich am wohlsten fühlen.
UNVERSEHRTHEIT Der Talmud bestreitet, dass der Mensch das Recht hat, seine eigene körperliche Unversehrtheit zu verletzen, ein noachidisches Verbot, das sich auf das 1. Buch Mose 9,5 stützt: »Und wahrlich, ich will dein Blut fordern.« Ist es dann nicht unzulässig, die Gesundheit von Kindern zu gefährden? Vor mehr als 1950 Jahren gingen Rabbi Ismael und Rabbi Akiwa durch die Straßen von Jerusalem, als sie von einem kranken Mann angehalten wurden, der sie fragte, wie er geheilt werden könne.
Die Rabbiner gaben ihm einen Rat. Ein Wegbegleiter fragte, wer diesen Mann krank gemacht hatte: »G’tt natürlich«, so die Rabbis. »Wie kannst du dich dann in himmlische Angelegenheiten einmischen?«, fragte der Begleiter. »Was machen Sie beruflich?«, war die Gegenfrage. »Ich bin von Beruf Landwirt«, antwortete der Begleiter. »Also«, sagten die Gelehrten, »G’tt hat deinen Weinberg geschaffen, und du nimmst dir die Freiheit, seine Früchte zu pflücken und das Unkraut zu jäten?« »Wenn ich meinen Weinberg nicht pflegte, würde er keinen Ertrag bringen!«
»Mein lieber Mann«, antworteten sie, »verstehst du nicht, dass, so wie der Weinberg nicht ohne die Pflege von Menschenhänden wachsen kann, auch der Mensch nicht ohne medizinische Versorgung gedeihen kann? Der Mensch braucht von Zeit zu Zeit Medizin, und der Bauer in unserem Gleichnis ist der Arzt, der sich um die Gesundheit seiner Mitmenschen kümmert.« Ein medizinischer Eingriff ist erforderlich, auch nolens volens. Daher sollte die Regierung meiner Meinung nach in Erwägung ziehen, die Impfung im Interesse der allgemeinen öffentlichen Gesundheit so weit wie möglich zur Pflicht zu machen.
Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.