Die Anfangsworte unseres Wochenabschnitts, »Wajelech Mosche« – »Und Mosche ging« (5. Buch Mose 31,1), bringt man mit dem nahenden Tod des Meisters in Zusammenhang. Er nahm Abschied von den Stämmen, meinte der Kommentator Abraham Ibn Esra (1089–1167).
Mosche beschwört in dieser Abschiedsrede sein Volk, weiter auf dem von G’tt gezeichneten Weg zu wandeln. Er ist sich darüber im Klaren, dass die Verführung zur Abkehr mannigfaltig ist und sich der Abgrund für Israel rasch öffnen könnte. Daher spricht er: »Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse« (30,15).
Es liegt auf der Hand, dass die Aussage der Tora »Wähle das Leben« (30,19) den Menschen die freie Wahl geschenkt hat. Sie sollen, ja müssen sogar, die Entscheidung selbst treffen, zu jeder Zeit, für sich allein ohne Bevormundung.
SIngular Der Wilnaer Gaon, Rabbi Elija ben Schlomo (1720–1797) merkt zu dieser Torastelle an, dass die Schrift hier in der Anrede die Einzahl verwendet: »Siehe, ich lege dir heute das Leben und das Glück vor.« Rabbi Elija sieht darin einen Hinweis darauf, dass der Einzelne, auch in Zeiten moralischen Verfalls, in seinem Glauben stark bleiben soll. Denn G’tt, sein Herr, hat mit ihm für alle Zeiten einen Bund geschlossen, und Seine Fürsorge um ihn wird nicht enden.
Rabbi Elija half mit dieser Aussage vielen Juden, die in einer fremden, häufig feindlich gesinnten Umwelt lebten und unterdrückt wurden. Er empfahl ihnen, sich nicht an der gewalttätigen Mehrheit zu orientieren, die die Mitmenschen missachtet, sondern als Bündnispartner G’ttes Seine Güte und Gnade nachzuahmen.
Reb Mendele aus Kozk (1787–1859) legte den Toravers »Siehe, ich habe dir heute vorgelegt das Leben und das Gute, den Tod und das Böse« folgendermaßen aus: Er soll uns immer daran erinnern, dass das Leben ein besonderes, ein wertvolles Geschenk darstellt. Es ist uns jedoch nur deshalb gemacht worden, damit wir das Gute auf dieser Welt mehren. Um des Lebens willen muss der Mensch das Gute wählen, das auch den anderen ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
Das Gute im Leben zu suchen, ist das Wesentliche, der Sinn des menschlichen Daseins. Wenn man die Vernunft walten lassen könnte, so der Kozker Rebbe, müssten wir einsehen, dass wir doch im Guten miteinander auskommen könnten und alle aufeinander angewiesen sind. Aber sehr oft, beklagt der Kozker, mangele es an Vernunft und Einsicht. Weil wir uneinsichtig sind, machen wir uns gegenseitig zum Feind, obwohl es wesentlich einfacher ist, einander Gutes zu tun, um des Lebens willen.
Verantwortung Die Tora hält dem Menschen die Alternativen Glück und Unglück vor Augen und fordert ihn auf: »Wähle also das Leben« (30,19). Die Ethik des Judentums gründet auf der Verantwortung des Menschen, auf dem Prinzip des freien Willens. Das scheint der Vorstellung von der Allmacht des allwissenden G’ttes zu widersprechen. Der Talmud löst diesen scheinbaren Widerspruch auf seine Weise: »Alles liegt in der Hand G’ttes, eine Ausnahme bildet lediglich die Ehrfurcht vor Ihm« (Berachot 33b, Megilla 25a, Nidda 16b). Zu dieser muss sich der Mensch selbst durchringen.
Der Sinn der ethischen Lehre der Tora besteht darin, den Menschen anzuspornen, sich als ein moralisches Wesen ständig zu formen, um den Verführungen und Herausforderungen des Alltags Herr zu werden.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.
Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajelech erzählt von den letzten Tagen Mosches: Er erreicht sein 120. Lebensjahr und bereitet sich selbst sowie auch die Israeliten auf seinen baldigen Tod vor. Er verkündet, dass er nicht über den Jordan ziehen darf und Jehoschua das Volk an seiner Stelle anführen wird. Der Wochenabschnitt erwähnt eine weitere Mizwa: In jedem siebten Jahr sollen sich alle Männer, Frauen und Kinder im Tempel in Jerusalem versammeln, um aus dem Mund des Königs Teile der Tora zu hören. Mosche unterrichtet die Ältesten und die Priester von der Wichtigkeit der Toralesung und warnt sie erneut vor Götzendienst.
5. Buch Mose 31, 1–30