Der Wochenabschnitt Schoftim beginnt mit dem Befehl, Richter in allen Städten Israels einzusetzen. In der Tora heißt es: »Richter und Beamte sollst du ernennen in allen deinen Städten, die der Ewige, dein G’tt, dir für deine Stämme gibt. Und sie werden das Volk mit einem gerechten Urteil richten« (5. Buch Moses 17,18). Im Vers wird ein Wort verwendet, den viele Kommentatoren unter die Lupe nehmen: Städte. Wörtlich benutzt die Tora die Formulierung »in allen deinen Toren« sollst du Richter ernennen. Gern wird an dieser Stelle diskutiert, ob damit durch die Tora mitgeteilt wird, dass Zollbeamte und Grenzwachen an allen Stadttoren eingesetzt werden sollen, um Einreisegelder zu kassieren.
Raschi, einer der bedeutendsten Kommentatoren und eine anerkannte Autorität in der Toraauslegung, legt den Vers nach seinem Verständnis aus. Unter Toren versteht er Städte, denn anders wäre ja kaum ein logischer Zusammenhang mit der Ernennung der Richter herzustellen. Wir wissen, dass immer, wenn in einem Toravers außergewöhnliche Begriffe verwendet werden, sie eine verborgene Bedeutung haben, die sich direkt auf unser alltägliches Leben bezieht. Weshalb also verwendet die Tora an dieser Stelle das Wort Tore statt Städte?
Sinnesorgane Der große jüdische Mystiker Schlah – Autor von Shnei Luchot haBrit – schreibt in seinem Kommentar, dass die Tora uns mit der Verwendung des Wortes »Tore« einen Hinweis auf die ganz persönlichen Tore des menschlichen Körpers geben will. Der Kopf eines Menschen hat sieben Öffnungen, die eine Verbindung zu den Sinnesorganen herstellen: Ohren, Augen, Mund, Nasenlöcher. Der Schlah erklärt, dass diese körperlichen Tore sowohl Richter als auch Beamte brauchen, um sicherzustellen, dass möglichst nur gute und erhabene Materie aufgenommen wird. Wir müssen darauf achten, dass wir kein Geschwätz über andere Menschen, Schimpfwörter oder falsche Ratschläge hören oder selbst aussprechen. Wir sollen nicht auf Unreines schauen, noch die Not anderer Menschen übersehen oder uns vom Geruch nichtkoscheren Essens verführen lassen.
Versuchen wir, diese Ideen, mit einer Geschichte zu erklären. Ein älterer litauischer Jude, der sein Geld in Cincinnati als Schochet (Schlachter) verdiente, kam nach New York. Nun ging der Jude zu einem Kardiologen. Während er wartete, öffnete sich die Tür und ein angesehener chassidischer Rabbiner kam hinein. Er schien eine dringende Angelegenheit mit dem Arzt zu besprechen haben. Im Wartezimmer bemerkte der Rebbe den älteren Juden: »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ich werde mit dem Arzt nur wenige Minuten sprechen, ist das für Sie okay? Wenn nicht, ist das kein Problem, dann werde ich eben warten.« Der Mann ließ dem Rabbiner den Vortritt. Nach kurzer Zeit verließ der das Sprechzimmer, bedankte sich nochmals und verließ die Praxis.
Später, als der Mann diese Geschichte erzählte, sagte er: »Ich weiß nicht viel über Chassidim und Rebbes, aber es gibt einen, von dem ich sagen kann, dass er wirklich in Ordnung ist.« Der Rabbiner hatte in all seiner Würde und seiner momentanen Eile den alten Mann nicht übersehen, mit ihm gesprochen und seine Antwort abgewartet. Anschließend hatte er sich bedankt. So will uns die Tora mit der Wendung »in allen deinen Toren sollst du Richter und Beamte ernennen« darauf hinweisen, dass vor allem die Menschen, die Entscheidungen treffen und unser Volk leiten, für ihr Verhalten nicht nur dann verantwortlich sind, wenn sie im Beit Din, dem Gericht, sitzen und ihre amtlichen Pflichten erfüllen. Sie sollten in allen Lebensbereichen und Situationen vorbildlich handeln, damit wir zu ihnen hinaufsehen, sie respektieren und bereitwillig von ihnen lernen können.
versuchung Der Wochenabschnitt Schoftim wird im Monat Elul gelesen – einem Monat, in dem Haschem eine besondere Nähe des jüdischen Volkes zu sich zulässt. Es ist ein besonderer Monat der Vorbereitung auf die kommenden Tage des höheren Gerichts: Rosch Haschana und Jom Kippur. Wie bereitet man sich auf eine Gerichtssitzung vor? Die Antwort liegt in unserem Wochenabschnitt, wo die Tora zu uns sagt: »Wenn du gegen deine Feinde in den Krieg ziehst« (5. Buch Moses 20,1ff).
Unter »Feinden« verstehen unsere Weisen nicht nur einen physischen Feind, sondern vor allem das, was auch gern mit dem unschönen Wort »innerer Schweinehund« bezeichnet wird. Der Jezer haRa, der böse Trieb, gegen den wir täglich »in den Krieg ziehen«, lauert überall: Ein unvorsichtiges, unüberlegt ausgesprochenes böses Wort hier, ein schlechter, unkontrollierter Gedanke dort. Das jüdische Denken zeigt uns, was wir lernen müssen, um uns gegen den Jezer haRa zu verteidigen und nicht etwa permanent je nach Laune zu handeln. Ein besonders beliebter Trick des Jezer haRa ist seine Tarnung: Nicht immer merken wir, dass sich der böse Trieb hinter scheinbar harmlosem Verhalten versteckt. Normalerweise erkennen wir das Böse daran, dass es uns dazu bewegen möchte, etwas Verbotenes und Unmoralisches zu tun.
Faulheit Doch auch das Nichtstun, die Faulheit, ist eine Form des Bösen. Wir könnten so viel in unserem Leben erreichen, unsere Welt, die Gesellschaft, die Familie oder wenigstens uns selbst zu verbessern, würde uns nicht immer wieder zugeflüstert werden: »Ruhe dich ein wenig aus, sonst bist du müde! Mach noch ein wenig Shopping, sonst hast du doch nicht genug Kleidung! Geh ins Kino, sonst verpasst du gute Unterhaltung! Morgen ist doch auch noch ein Tag.«
Dagegen zu kämpfen, befiehlt uns die Tora: »Höret, Israeliten, ihr rückt heute gegen eure Feinde zur Schlacht heran, euer Herz soll nicht verzagen, fürchtet euch nicht, zittert nicht und erschreckt nicht vor ihnen, denn der Ewige, euer Gott ist es, der mit euch zieht« (5. Buch Moses 20,2). Wir sollen energisch in die Schlacht gegen den bösen Trieb ziehen und bewusst auf Unnötiges und Unwichtiges verzichten.
Wir sollen immer daran denken, dafür »Richter und Beamte« vor unsere Tore zu stellen, um unseren Rücken zu decken und Soldaten in die Offensive zu schicken, um gegen den inneren Widersacher zu kämpfen. Die Tora weist uns den Weg zur richtigen Kriegsführung. Wenn wir uns an diese Weisungen halten, ist der Sieg uns sicher.
Der Autor ist Rabbinatsstudent an der Jeschiwa »Beis Zion« in Berlin.