Vorsicht, Lebensgefahr! – Wenn wir das lesen, wissen wir sofort: Hier ist besondere Aufmerksamkeit geboten. Die größten Gefahren lauern bekanntlich im Alltag, wo es meist keine Schilder gibt, die uns vor Gefahrensituationen warnen. Das vergangene Jahr hat uns gelehrt, dass selbst zwischenmenschliche Kontakte unter Umständen lebensgefährlich sein können.
Im Wochenabschnitt Acharej Mot (»nach dem Tod«) erinnern wir uns an den tragischen Tod von Nadaw und Awihu. Diese Geschichte ist Bestandteil der Parascha Schemini, die vor zwei Wochen gelesen wurde. Inmitten der Feierlichkeiten im Rahmen der Weihe des neuen Heiligtums, (eigentlich) großartigen Tagen, sterben Nadaw und Awihu vor den Augen ihres Vaters Aharon.
Die Tora nennt uns einen Grund für ihren Tod: das »fremde Feuer«. Nadaw und Awihu wollten ein Opfer darbringen, das Gott nicht geboten hatte. Diese Geschichte lehrt uns, wie wichtig es war, den Anweisungen Gottes beim Darbringen der Opfer zu folgen – und zwar bis ins kleinste Detail!
TOD Zu Beginn des Abschnitts dieser Woche wird der Tod von Nadaw und Awihu erneut genannt. Es heißt: »Der Ewige sprach zu Mosche, nachdem die beiden Söhne Aharons das Leben verloren hatten, als sie nämlich vor den Ewigen hintraten und starben.«
Ein Deutschlehrer würde hier vermutlich den roten Stift in die Hand nehmen und eine inhaltliche Wiederholung bemängeln, denn bereits die erste Hälfte des Verses sagt aus, dass die beiden Söhne von Aharon ihr Leben verloren haben. Wieso wird dies mit dem Hinweis »als sie nämlich vor dem Ewigen hintraten« wiederholt?
Betrachten wir die Gesamtsituation, die wir in dieser Parascha vorfinden: Gott offenbart Mosche Anweisungen, die von Aharon am Jom Kippur durchzuführen waren. Das Ritual am Versöhnungstag hatte eine hohe Bedeutung. Es sollte den Hohepriester, die anderen Priester und das Volk Israel von allen Sünden reinigen.
Dieses wichtige Ritual wurde nur am Jom Kippur und somit an einem einzigen Tag im Jahr durchgeführt. Daher gab es hier keine tägliche, wöchentliche oder monatliche Routine. Anders ausgedrückt: Es gab überhaupt keine Routine. Folglich war besondere Vorsicht bei der Durchführung geboten.
Abraham Ibn Esra (1089–1167) schreibt in seinem Kommentar dazu: »Sie (die Söhne Aharons) brachen die Regeln und wurden dafür bestraft. Brich nun du die Regeln nicht, sonst wirst auch du bestraft werden.« Durch die wiederholte Nennung des Todes von Aharons Söhnen wird dieser Hinweis eindringlicher, wie auch Raschi (1040–1105) feststellt. Er zitiert dazu ein Gleichnis von Rabbi El’asar: »Das gleicht einem Kranken, zu dem der Arzt sagt, der ihn besucht: ›Iss nichts Kaltes und liege nicht, wo es feucht ist.‹ Ein anderer Arzt kommt und sagt zu ihm: ›Iss nichts Kaltes und liege nicht, wo es feucht ist, dass du nicht sterbest, wie der andere gestorben ist!‹ Der zweite hat ihn stärker ermahnt als der erste.«
So erklärt sich die Notwendigkeit dieser Doppelung im ersten Vers des Wochenabschnitts. Sie ist erforderlich, um in Erinnerung zu rufen, dass schon zwei Personen gestorben sind, weil sie sich nicht an Gottes Befehle gehalten haben. Der Hinweis ist weniger für Aharon gedacht, der dies ohnehin nicht vergessen hätte, sondern für künftige Hohepriester, die sich auf ihren Dienst im Tempel vorbereiten. Sie sollten sich der Bedeutung (und Gefahr!) ihrer Aufgabe bewusst sein und die Anweisungen so genau wie möglich befolgen.
ALLERHEILIGSTES Im nächsten Vers heißt es: »Rede mit deinem Bruder Aharon, dass er nicht zu jeder Zeit in das Heiligtum innerhalb des Vorhangs komme.« Der Bereich »innerhalb des Vorhangs« war das innere Heiligtum, das Allerheiligste. Dieser Bereich durfte nur am Jom Kippur betreten werden, zunächst vom Hohepriester Aharon, später vom jeweils amtierenden Hohepriester. Im Allerheiligsten befand sich Gottes Präsenz.
Eine zu große Nähe zu Gott birgt nach Anschauung der Tora Gefahren: »Denn kein Mensch schaut Mich (Gott) und bleibt am Leben« (2. Buch Mose 33,20).
Vers 13 des Wochenabschnitts ist zu entnehmen, dass sich Aharon mit einer »Wolke von Rauchwerk« umhüllen sollte. Diese wirkte als Schirm, der verhindern sollte, dass Aharon die heilige Gegenwart Gottes mit Augen erkenne. Somit war das Ritual, das am hohen Feiertag, an nur einem Tag im Jahr, im Allerheiligsten durchgeführt wurde, noch lebensgefährlicher als sonstige Rituale. Auch wenn es kein Schild gab, das darauf hinwies, so sollte dies keinesfalls unterschätzt werden. Jedes noch so kleine Detail musste stimmen.
Es verwundert nicht, dass der Hohepriester bereits eine Woche vor Jom Kippur von den Weisen des Volkes intensiv auf seinen Dienst am Jom Kippur vorbereitet werden sollte. Die Nacht vor Jom Kippur soll der Hohepriester stets schlaflos verbracht haben. Das ist durchaus nachvollziehbar!
Wenn wir uns heute in der Synagoge zum Gebet versammeln, so gibt es zwar eine »heilige Lade« (Aron Hakodesch), in der die Torarollen aufbewahrt werden, doch gibt es keinen Bereich, der vergleichbar wäre mit dem Allerheiligsten des Tempels, keinen Bereich, in dem Lebensgefahr herrscht (zumindest nicht aus religiösen Gründen).
PIKUACH NEFESCH Gerade das vergangene Jahr, in dem teilweise über Wochen, teilweise über Monate hinweg keine Gottesdienste in der Synagoge gefeiert werden konnten, hat uns gelehrt, wie wichtig und besonders die Gemeinschaft ist. Gleichzeitig war die Schließung der Synagogen angebracht, da »Pikuach Nefesch«, die Pflicht, Leben zu retten, Vorrang vor dem Gebet in der Gemeinschaft hat.
Nach wie vor dürfen Gottesdienste nur unter starken Auflagen abgehalten werden. Wir sollten es als Verpflichtung sehen, die Hygiene- und Gesundheitsmaßnahmen einzuhalten, völlig unabhängig davon, ob wir selbst Sorge empfinden, uns mit dem Coronavirus anzustecken oder nicht.
Wie es die Millionen Toten weltweit leider zeigen, gilt hier beim Unterlassen im schlimmsten Fall ebenfalls Lebensgefahr. Genauso wenig wie dies der Hohepriester in früheren Zeiten am Jom Kippur mit anderem Hintergrund unterschätzt hat, sollten wir dies heute tun.
Der Autor ist Landesrabbiner von Thüringen und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).
inhalt
Der Wochenabschnitt Acharej Mot beginnt mit Anordnungen zu Jom Kippur und beschreibt, dass es für den Hohepriester gefährlich war, das Allerheiligste zu betreten. Denn eine zu große Nähe zum Göttlichen barg Gefahren in sich. Im 3. Buch Mose 17 beginnt das Heiligkeitsgesetz. Darin werden weitere Opfergesetze und Speisevorschriften übergeben, wie etwa das Verbot des Blutgenusses und das Verbot des Verzehrs von Aas. Den Abschluss bilden das Thema verbotener Ehen wegen zu naher Verwandtschaft sowie Regelungen zu verbotenen sexuellen Beziehungen.
3. Buch Mose 16,1 – 18,30
Der Wochenabschnitt Kedoschim ist der zentrale Teil des Buches Wajikra. Er enthält Anweisungen für das gesamte Volk Israel, heilig zu sein in Gedanken, Worten und Taten. Der Höhepunkt dieses Abschnitts ist der Satz »Liebe deinen Nächsten so, wie du dich selbst liebst«. Unter anderem werden gefordert: Respekt vor den Eltern, die Einhaltung des Schabbats, Ecken der Felder für Arme übrig zu lassen, nicht zu stehlen, Gerechtigkeit walten zu lassen, keine verbotenen sexuellen Beziehungen einzugehen und mit Maßen und Gewichten ehrlich umzugehen.
3. Buch Mose 19,1 – 20,27