Als ich Uri kennenlernte, hätte er als Double für den jungen Franz Kafka arbeiten können. Ein wenig zu dünn, besser gesagt, viel zu dünn, große Ohren, runde Brille. Sein Passfoto hätte man in einem Lexikon unter dem Stichwort »Junger Intellektueller« abbilden können. Früher interessierten wir uns beide außerordentlich für die verschiedenen Bräuche des Gebets und alles, was damit zusammenhängt. Themen, die uns in der Beliebtheit beim anderen Geschlecht nicht auf Rang eins katapultierten.
Nach seiner Zeit bei Zahal war aus dem Intellektuellen Uri ein Kerl geworden. Die große runde Brille wich einer modischen schmalen, und die Sonnenstrahlen hatten seinem Teint die Blässe genommen. So klappte es bald auch bei den Frauen, und Uri schnappte sich die Schönste der ganzen Umgebung. Sie war eine jemenitische Jüdin.
Uris Interesse führte schnell dazu, dass er die jemenitischen Bräuche für sich entdeckte. Und bald schon betete er wie einer von ihnen. Auch seine Aussprache des Hebräischen beim Gebet und der Toralesung passte er an. Die Melodie der Rezitation ist vollkommen anders. Für Ohren, die das noch nie gehört haben, entsteht schnell der Eindruck, es könnte Arabisch sein.
Fahndungsfoto Kürzlich besuchte mich Uri. Er trägt jetzt einen leichten Bart. Und wegen seiner Bräune auch jetzt im Winter hätte ein Schwarz-Weiß-Foto von ihm bestimmt an ein Fahndungsbild erinnert. Ich versprach ihm, am Schabbat in eine Synagoge zu gehen, die auch von vielen Israelis besucht wird. Als wir ankamen, waren natürlich keine Israelis da, und ich bekam rote Ohren, weil mir das mehr als peinlich war.
Trotzdem schien es Uri zu gefallen. Er fühlte sich wohl und betete recht laut in seinem jemenitischen Singsang. Die anderen Beter steckten ihre Köpfe zusammen – das ist eigentlich nie ein gutes Zeichen. Als ich dann einmal kurz den Betraum verließ, sprach mich eine ältere Frau auf Russisch an. Sie wollte wissen, ob ich da einen Araber mitgebracht hätte. »Nein«, versuchte ich in gebrochenem Russisch umständlich zu erklären, »er kommt aus Israel und folgt dem jemenitischen Nusach.« Das sei eben eine andere Art zu beten.
Reizwort Offenbar lag zwischen meiner Absicht und dem, was ich tatsächlich gesagt hatte, eine ganze Welt. Die Frau jedenfalls verstand nur »Jemen« und erzählte es sofort weiter. Ich glaube, Jemen scheint dieser Tage gerade eine Art Reizwort zu sein. Denn zehn Minuten später saßen wir allein auf der linken Seite der Synagoge. Alle anderen waren auf die rechte Seite hinüber gewechselt, und es herrschte eine eisige Stimmung im Raum.
Uri war irritiert. Was meine Situation verschärfte war die Tatsache, dass ich wusste, wer uns offensichtlich in diese Lage gebracht hatte. Der Vorbeter, der Russisch und Hebräisch spricht, klärte das Problem später auf und sorgte so dafür, dass wir zum Kiddusch bleiben durften. Besseres Russisch hätte den Betern sicherlich einiges an Angst erspart und mir den Kauf eines neuen Hemdes. Denn das alte war wegen meiner unzureichenden Russischkenntnisse total durchgeschwitzt.