Es gibt Passagen in der Tora, die sich für interreligiöse Begegnungen nicht gut eignen. Einige Verse, die an Chol HaMoed Sukkot gelesen werden, nämlich 2. Buch Mose 34, 11–17, sind eine Herausforderung für alle, die Religion als eine Grundlage für Toleranz sehen möchten.
Mosche ist wieder auf dem Berg Sinai. Schon einmal war er hier, schon einmal hat er Gesetzestafeln empfangen und sie dem Volk gebracht. Das Volk aber sehnte sich zurück nach Ägypten und wollte einen Gott, den man sehen kann. Also fertigte Aharon ein Götzenbild für die Israeliten, ein Kalb aus Gold. In rasender Wut zerstörte Mosche die Tafeln und ordnete ein Massaker an, dem rund 3000 Menschen zum Opfer fielen (32, 19–29). Dann geht Mosche zu Gott zurück (32,31) und berichtet, was passiert ist (als ob Gott das nicht selbst wüsste). Mosche ist außer sich vor Wut: Wenn es mit dem Volk so weitergeht, dann bitte ohne mich!
Aber Gott bleibt optimistisch, auch nach diesem Rückschlag. In Kapitel 33, 5–6 stellt Er das Volk vor die Wahl: Entweder ihr kommt mit ins verheißene Land, oder ihr werdet in der Wüste vernichtet.
Gesetzestafeln Da die alten zerbrochen sind, braucht Mosche zwei neue Gesetzestafeln. Er muss also wieder auf den Berg hinauf. Und als Gott erscheint und sich selbst preist (»barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Huld und Treue«) und auch warnt (»der aber nichts ungestraft lässt, der die Schuld der Väter ahndet an Kindern und Kindeskindern«), da ist Mosche dann plötzlich doch nicht mehr so überzeugt von dem Unternehmen. Er hat Zweifel und benutzt das hebräische Wort »im« (deutsch: wenn), das wichtigste Wort in der ganzen Tora: »Wenn ich denn Gnade gefunden habe« – gibt es dann wirklich die Möglichkeit eines Neuanfangs? Aber Gott stimmt zu: »Siehe, ich schließe einen Bund ...«.
Und so sehen wir den neuen Bund, parallel zu 1. Buch Mose 12, 6–7: »Da erschien der Ewige dem Awram und sprach: ›Deinen Nachkommen will ich dies Land geben‹« – obwohl »die Kanaaniter schon damals im Lande waren«. Hier, ganz am Anfang der abrahamitischen Geschichte, sehen wir, dass die Welt nicht leer ist und jede Bewegung von Völkern und Stämmen potenzielle Konflikte nach sich zieht. Denn Alteingesessene sehen es nicht gern, wenn Neuankömmlinge auf ihrem Territorium erscheinen – so ist es im Nahen Osten, in Europa und auch in den jüdischen Gemeinden.
Um Mosche Mut zu machen, verspricht Gott, ihm zu helfen. Er versteht, dass es für Mosche mühsam genug ist, sich mit den Israeliten herumzuschlagen. Soll er sich da auch noch um andere Völker kümmern, die ihnen das Leben schwer machen? Nein. Das erledigt Gott. Ja, Er erledigt sie.
Aus der einen Perspektive ist das grausam, aus einer anderen hingegen ganz vernünftig. Gott will Sein Volk hier allein sehen, individuell, auserwählt, nicht in andere Völker integriert und schon gar nicht assimiliert. Multikulti ist nicht das Ideal – »sie könnten sonst einen Friedensbund mit den Bewohnern schließen und werden dann weiter ihren Götzendienst praktizieren. Und bevor man weiß, wie es dazu kam, wird es gemischtes Tanzen geben«.
Identität Die Israeliten sind als Volk noch unerfahren und naiv. Sie haben bisher keine Identität entwickelt als »Kinder Israels«. Sie haben noch keine Erfahrung damit, als Nation in einem eigenen Land zu leben. Deshalb soll also besser alles aus dem Weg geräumt werden. Fremde Kultstätten und Priester werden aus dem Weg geräumt, damit sich die Israeliten auf ihre eigene Religion konzentrieren können.
So zu denken, ist heute natürlich politisch nicht korrekt. Aber war die Tora jemals politisch korrekt? Vergessen wir nicht: Wir sind im 2. Buch Mose! Es werden noch fast 40 Jahre vergehen, bis die nächste Generation unter Jehoschua selbst zur Waffe greifen muss, um das Land zu erobern.
In unserer Zeit zerstören die Taliban buddhistische Statuen und die IS-Fundamentalisten antike Tempel. Vorher hatten Muslime christliche Kirchen übernommen und umgebaut. Und was mit Synagogen geschah, ist auch hinreichend bekannt. Wenn wir uns anschauen, wie die Weltpolitik reagiert, wenn Christen, Muslime und Jesiden verzweifelt um ihr Leben fliehen, können wir uns vorstellen, wie sie reagieren würden, falls Juden wieder fliehen müssen. Also, ich bin persönlich nicht bereit, von außen viel Kritik an diesen Versen zu akzeptieren.
Und Kritik von innen? Das ist eine Herausforderung. Der moderne Staat Israel versucht, Wege zu finden, um die Kluft zwischen modern und alt zu überbrücken. Nach den Gesetzen können alle Bewohner des Landes glauben und beten, wie sie möchten. Von einigen Skandalen abgesehen – wie kürzlich einem Angriff auf eine Kirche in Tabgha –, ist es in der Regel so, dass Christen in Israel Christen bleiben können und Muslime Muslime. Und auch Samaritaner und Bahai dürfen ihre Religionen praktizieren. Nur uns liberalen Juden wird es in Israel nicht immer leicht gemacht.
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Liberalen Gemeinde »Or Chadasch« in Wien.