An diesem Schabbat, Chol Hamoed Pessach, wird in den Synagogen das Buch »Schir haSchirim« (Hohelied) gelesen. Außerdem gibt es vier weitere so genannte Megillot (Rollen) – also Bücher des Tanachs, der Hebräischen Bibel – , die während des Jahres an speziellen Feier- und Gedenktagen öffentlich vorgelesen werden.
An Schawuot ist es das Buch Ruth, am Fastentag Tischa BeAw wird die Megillat Ejcha (Klagelieder) gelesen, an Sukkot das Buch Kohelet (Prediger) und am Purimfest das Buch Esther.
Purim Eigentlich ist die Zugehörigkeit der meisten Megillot zu den Tagen, an den sie gelesen wird, offensichtlich. So wird im Buch Esther die Geschichte von Purim erzählt.
In den Klageliedern werden die Ereignisse rund um die Zerstörung des Tempels beweint, und die Ereignisse im Buch Ruth spielen sich zur Zeit des Schawuotfestes ab. Man versteht allerdings nicht sofort, worin die Verbindung zwischen Sukkot und dem Buch Kohelet besteht. Unsere Weisen erklären diesen Brauch damit, dass der latent deprimierende Text des Predigers die mitunter ausufernde Freude des Erntefestes hemmen soll.
Warum jedoch an Pessach ausgerechnet »Schir haSchirim« gelesen werden soll, leuchtet auf den ersten Blick überhaupt nicht ein. Dabei lesen viele Juden dieses Buch nicht nur am Schabbat Chol Hamoed, wie es zum Beispiel beim Buch Kohelet während des Sukkotfestes der Fall ist, sondern auch gleich nach dem Ende des Pessachseders!
Unsere Weisen haben eindringlich davor gewarnt, das Hohelied oberflächlich zu betrachten beziehungsweise weltlich oder sogar erotisch zu interpretieren. In Wirklichkeit ist dieses Buch eine Allegorie für die Beziehung zwischen G’tt und dem Volk Israel. Aber was hat das mit dem Pessachfest zu tun? Dieses Lied hätte, so scheint es zunächst, eher zu Jom Kippur gepasst, weil wir am Versöhnungstag die vollständige Vergebung der Sünde des Goldenen Kalbes feiern.
Sohar »Machzor Vitri« (ein Kompendium der Liturgie und des Ritus jüdischer Gottesdienste an besonderen Feiertagen) erklärt die Verbindung zu Pessach mit Vers 1,9 des Hohelieds: »Einer Stute an den Wagen des Pharaos vergleiche ich dich, meine Freundin!« Und im kabbalistischem Buch »Sohar« wird erklärt, dass das Hohelied die ganze Tora, die Erzählung über die Sklaverei in Ägypten, alle anderen Unterdrückungen und alle Rettungen der Juden beinhaltet.
Eine schöne Erklärung, aus der wir vieles lernen können, bietet Rav Menachem-Michael Gitik (Israel) an: Wenn man die Erzählung im Hohelied betrachtet, dann kommt einem als Leser zunächst einiges komisch vor. Zuerst lesen wir im 3. Kapitel, wie die Braut ihren Bräutigam überall sucht und nicht findet. Im 5. Kapitel kommt der Bräutigam zu seiner Braut und klopft ans Fenster (5,2). Als die Braut schließlich bereit ist, die Tür zu öffnen und den Liebsten hereinzulassen, verschwindet er plötzlich (5,6): »Ich tat meinem Freunde auf; aber mein Freund war verschwunden, vorbeigegangen…«.
Wie soll man das verstehen? Das macht doch keinen Sinn! Sogar wenn wir die Erklärung unserer Weisen anwenden, diese Geschichte sei eine Beschreibung der Beziehung zwischen G’tt und dem jüdischem Volk, stellt sich die Frage: Warum verschwindet G’tt, wenn die Juden schon bereit sind, Ihn zu akzeptieren?
Omer Genau an dieser Stelle kommt Pessach ins Spiel. Denn speziell an Pessach bekommen wir von G’tt einen Impuls, der uns aufwecken soll. Und zwischen Pessach und Schawuot müssen wir uns durch das Zählen des Omer Mühe geben, um sieben Wochen nach dem Fest der Freiheit würdig zu sein, die Tora empfangen zu dürfen.
Denn die Tora sagt, dass es ab dem zweiten Tag von Pessach eine Mizwa ist, jeden Tag das Omer (wörtlich Garbe, ein Getreideopfer zu Zeiten des Tempels in Jerusalem) zu zählen: »Sieben Wochen sollst du dir zählen und damit anfangen¸ wenn man zuerst die Sichel an die Halme legt, und sollst das Wochenfest (Schawuot) feiern dem Herrn, deinem Gott, und eine freiwillige Gabe deiner Hand geben je nachdem, wie dich der Herr, dein Gott, gesegnet hat« (5. Buch Mose 16, 9-10).
Deshalb verschwindet der »Bräutigam« im Hohenlied! Er hat uns geweckt, und nun sind wir dran. Nun müssen wir uns auf das große Treffen am 6. Tag des jüdischen Monats Siwan, dem Schawuotfest, vorbereiten.
Dies kann man auch an den Sternzeichen ablesen, die wie alles in dieser Welt ihren Ursprung im Judentum haben. Das Sternzeichen des Monats Nissan, in dem wir Pessach feiern, ist der Widder. Und der Widder ist ein Tier, das nicht selbstständig ist, sondern geführt werden muss, also symbolisch für einen Impuls durch G’tt steht.
Zwillinge Das Sternzeichen des Monats Ijar wiederum (der Monat, in den die meisten Tage des Omerzählens fallen) ist der Stier. Der Stier ist ein Tier, das selbständig ist und wuchtige Fortbewegung symbolisiert (unsere eigene Arbeit während des Monats). Das Sternzeichen des Monats Sivan wiederum ist der Zwilling.
Zwillinge symbolisieren Parität und Ebenbürtigkeit: Endlich sind wir so weit, um G’tt auf Augenhöhe zu treffen.
Und wenn wir das heilige Buch »Schir haSchirim« an Pessach aufmerksam lesen und richtig deuten, wird unser geliebter »Bräutigam« nur sieben Wochen später auf uns warten und sich nicht mehr vor uns verstecken!
Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.