Moral

Von wegen goldene Mitte

Ausgeglichen und angepasst, nicht zu schnell und nicht zu langsam: das Leben auf der mittleren Spur Foto: dpa

Auf welcher Spur sind Sie normalerweise auf der Autobahn unterwegs? Fahren Sie in der Mitte – weder zu schnell noch zu langsam? Oder fahren Sie auf der rechten oder linken Spur? Glauben Sie, dass das Leben eine Reise auf der mittleren Spur sein sollte – ausgeglichen und angepasst? Oder sollte man das Leben in Extremen leben, mit zielstrebigem Engagement?

In unseren Quellen begegnen wir einem scheinbar krassen Widerspruch. Die »goldene Mitte«, der Mittelweg zwischen den Extremen, ist die Basis der ethischen Direktiven von Maimonides, dem Rambam (1135– 1204). Er empfiehlt, Extreme zu meiden und den moderaten Weg als Gipfel der jüdischen und menschlichen Vervollkommnung zu betrachten. Er vertritt die Meinung, dass jegliche Tendenz zum Extremen eine traurige Abweichung ist, wohingegen der Mittelweg gut und wahrhaftig sei.

Hierzu im Widerspruch steht der berühmte chassidische Meister Rabbi Menachem Mendel von Kotzk (1787–1859). Als dieser gefragt wurde, warum er sich so extrem verhalte, erklärte er: »Sehen Sie, die beiden Seiten einer Straße sind für die Menschen, nur die Pferde laufen in der Mitte.« Menschen müssen also das eine oder andere Extrem wählen. Wenn sie dies nicht tun, dann sind sie wie Pferde.

Extreme Mit wem stimmen Sie überein, mit Maimonides oder mit dem Kotzker Rebben? Sollten wir stets in der Mitte bleiben, im perfekten Gleichgewicht zwischen den Extremen, und niemals Gefühlsausbrüche zulassen oder Position beziehen? Oder sollten wir manchmal mit feuriger Intensität für die eine oder andere Seite eintreten?

Ich werde Ihnen die jüdische Antwort geben, denn sie entspricht nun einmal der Wahrheit: Beide Ansichten sind korrekt, da sie nicht über dieselbe Sache sprechen. Die »Goldene Mitte« und der »Pfad der Pferde« sind nicht die Mitte der Straße.

Hierfür müssen wir eine kleine Reise durch die Bibel und die Lehren der jüdischen Philosophie unternehmen und einen Blick auf das Leben von Haran werfen.

Haran war Awrahams kleiner Bruder, der Vater von Lot. Die Tora erzählt, dass Awraham von seinem Vater zum babylonischen König Nimrod gebracht wurde, weil er dessen Götzen zerstört hatte. Nimrod warf ihn in den Ofen, in dem ein Feuer brannte.

Haran dachte sich: Wenn Awraham siegt, dann werde ich auf seiner Seite sein. Und wenn Nimrod gewinnt, dann bin ich für ihn. Als Awraham gerettet wurde, fragte man Haran: »Auf wessen Seite bist du?« Er sagte: »Auf Awrahams!« Da warfen sie ihn in den feurigen Ofen, und er verbrannte.

Haran hatte sich nicht entscheiden können. Auf der einen Seite stand sein einsamer Bruder Awraham, der lehrte, dass das Universum einen einzigen Schöpfer hat. Auf der anderen Seite stand die gesamte Gesellschaft, angeführt von Nimrod, der glaubte, dass das Universum ein Schlachtfeld zwischen einer Vielzahl von Göttern sei. Haran beschloss, ganz pragmatisch, dem Sieger zu folgen. Tragischer Weise führte seine Unentschlossenheit zu seinem Tod.

Seele Der Arisal, Rabbi Jitzchak Luria, der große Kabbalist des 16. Jahrhunderts, schreibt, dass Haran später wiedergeboren wurde als Aharon, der Hohepriester Israels und Bruder von Mosche. Ein und dieselbe Seele wurde erst in Haran, dem Bruder von Awraham, und dann viele Jahre später im Körper von Aharon wiedergeboren. Sie wurde dort zum Guten verändert.

In der Tat bestehen beide Namen aus denselben drei hebräischen Buchstaben: Hej, Rejsch und Nun. Doch hat Aharon am Anfang zusätzlich ein Alef.

Hej, Rejsch und Nun sind alle jeweils mittlere Buchstaben des Alefbets. Dazu muss man wissen, dass die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets auch als Zahlen dienen und in drei Einheiten aufgeteilt werden: in Einer, Zehner und Hunderter. Das Hej ist der mittlere Einer, das Nun der mittlere Zehner und das Rejsch der Mittlere unter den Hunderten.

Auf erstaunliche Weise spiegelt dieses Buchstaben-Konstrukt die Persönlichkeit des Namens Harans wider: Er ist in der Mitte. Er sieht stets die beiden Seiten einer Sache und kann keine Entscheidung treffen.

Haran ist der Vater der Ambivalenz – die erste Person in der Tora, die unentschlossen ist. Da er sich niemals sicher ist, wer Recht hat, will er sicher gehen. Er hat Angst davor, wirklich Position zu beziehen. Seine Kultiviertheit und sein Verständnis für die beiden Seiten einer Sache gehen einher mit fehlendem Rückgrat und Schwäche.

Wiedergeboren Generationen später wird Harans Seele in Aharon wiedergeboren. Auch Aharon reist auf der Mitte der Straße. Die Mischna lehrt, dass Hillel sagte: »Seid von den Schülern Aharons, liebt den Frieden und strebt nach dem Frieden, liebt die Menschen und bringt sie näher an die Tora« (1,12).

Aharon, so steht es in der Mischna, war der große jüdische Mediator. Er brachte Feinde zusammen und schlichtete innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Er erreichte dies nicht durch extreme Positionen, sondern indem er in der »Mitte der Straße« ging und als Brücke zwischen den Konfliktparteien fungierte.

Der radikale Unterschied zu Haran aber ist ein zusätzlicher Buchstabe im Namen Aharon. Haran ging auch in der Mitte. Aber aus Angst und Schwäche wurde er zum Mitläufer. Ihm fehlte die Überzeugung. Er schaute auf die Umfragen und folgte ihnen.

Aharon hingegen hat ein Alef am Anfang seines Namens. Das Alef ist ein Symbol für G’tt. Aharon hatte einen G’tt in seinem Leben. Er besaß Werte, Standards und Ideale, an denen er festhielt. Aharon hatte Charakter, er war nicht »Wischiwaschi«, sondern hatte Rückgrat.

Dass Aharon auf der Mitte der Straße ging, rührt von seiner Stärke und Tiefgründigkeit her, seiner Fähigkeit, das große Ganze zu sehen, was helfen kann, verfeindete Parteien zusammenzubringen.

Aharon besaß die seltene Fähigkeit, die vielfältigen Persönlichkeiten und Geister, die unser Universum hervorbringt, zu verstehen und eine Brücke zwischen ihnen zu bauen. Sein »Mitte-Sein« entsprang dem Alef, dem Verständnis, dass der undefinierte G’tt die Quelle aller Diversität in unserer Welt ist.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Lech Lecha erzählt, wie Awram, Sarai und Lot ihre Heimatstadt Charan verlassen und nach Kena’an ziehen. Eine Hungersnot führt sie weiter nach Ägypten. Um sein Leben zu retten, gibt Awram dort Sarai als seine Schwester aus. Sie müssen Ägypten verlassen. Awrams ägyptische Magd Hagar schenkt ihm einen Sohn, Jischmael. Der Ewige schließt mit Awram einen Bund und gibt ihm einen neuen Namen: Awraham. Als Zeichen für den Bund soll von nun an jeder männliche Neugeborene am achten Lebenstag beschnitten werden.
1. Buch Mose 12,1 – 17,27

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