Würde

Von wegen alt

Eine Frage der Einstellung: Auch im Alter kann man das Leben genauso genießen wie in jüngeren Jahren. Foto: Getty Images

Der Trend für Menschen im »besten Alter« lautet seit vielen Jahren: gesünder und jünger. Aus 70 wurde das neue 50. Wir sehen vitale Siebzigjährige beim Marathon mitlaufen, und die Fitnessstudios sind längst nicht mehr die Domäne der Jungen und Schönen.

Doch diese Zeiten scheinen nun vorbei. Schon vor dem großen Corona-Ausbruch erschien in den Niederlanden der vom Kabinett in Auftrag gegebene Bericht »Vollendetes Leben« des Van-Wijngaarden-Ausschusses (30. Januar). Darin hieß es, dass mehr als 10.000 Menschen über 55 Jahre ihr eigenes Leben als abgeschlossen betrachteten und ihm – mit oder ohne Unterstützung – ein Ende setzen möchten.

DEMENZ Die Parlamentarier versprachen, einen Gesetzentwurf zur Hilfestellung bei »vollendetem Leben« vorzulegen. Im April erlaubte das höchste Gericht der Niederlande die aktive Sterbehilfe bei demenzkranken Patienten.

Unsere Gesellschaft schafft immer mehr Raum, um ältere Menschen in hoffnungslosen Situationen – und das ist ein äußerst dehnbarer Begriff – »abzuschreiben«. Während der andauernden Corona-Krise hat sich dieser Trend, sowohl tatsächlich als auch gefühlt, bei vielen noch verstärkt. Auch deshalb, weil verschiedene Ärzte deutlich machten, es sei sehr gut möglich, dass die meisten Menschen, die am Coronavirus starben, zuvor nicht auf der Intensivstation behandelt wurden.

Es scheint ein Trend, der Menschen in ihren 60ern und 70ern immer größere Sorgen bereitet, und er verläuft sehr unterschwellig. In Italien hieß es ab einem gewissen Moment, dass Menschen über 60 Jahre nicht im Krankenhaus behandelt werden konnten. Und in den Niederlanden wurde uns dringend nahegelegt, darüber nachzudenken, was wir tun oder nicht tun sollten, wenn wir als über 60-Jährige einer Corona-Infektion zum Opfer fallen.

MENTALITÄT Es ist eine Frage der Mentalität: Ich beobachte einen schleichenden Wandel der Normen und Werte in Bezug auf die Wertschätzung des Lebens. Und dieser Trend breitet sich allmählich in ganz Europa aus. Ich halte dies für eine Diskriminierung des Alters, die in völligem Widerspruch zu allem steht, was uns das Judentum über den Respekt gegenüber älteren Menschen lehrt.

Der Talmud sagt, dass Toraschüler mit zunehmendem Alter immer besser werden.

»Mipnej sewa takum – für das Alter soll man aufstehen« und »Das Alter soll man ehren« heißt es in der Tora (3. Buch Mose 19,32). Wo ist die Solidarität geblieben? Haben wir, die über 60-Jährigen, allmählich unser Recht auf Leben verloren? Der Talmud sagt, dass Toraschüler gerade mit zunehmendem Alter immer besser werden. Kein Verfall oder Mangel an Lebensfreude und Zukunftsperspektiven – ganz im Gegenteil: je älter, desto besser.

Ganz im Gegensatz dazu steht diese Drohung mit minimaler oder minderwertiger Behandlung während der Corona-Krise – sie scheint der Bankrott unseres nicht mehr existierenden Versorgungsstaates zu sein. Und diese völlig unangebrachte Sparsamkeit zeigt sich nicht nur in den Niederlanden.

In Deutschland wird man sich davor hüten, dies so deutlich auszusprechen, weil es hier noch einen ziemlich »wunden Punkt« berührt, nämlich die Vernichtung des »lebensunwerten Lebens« während der NS-Zeit. Aber in anderen Ländern scheint es so, als würde die Regierung geradezu darauf abzielen, dass es ab einem gewissen Alter einfach »reicht«.

In der Schweiz zum Beispiel erscheinen regelmäßig Artikel über zufriedene ältere Menschen, die mit ihrem Leben »abgeschlossen« haben. Das ist angeblich das Maximum, was sie anstreben. Und natürlich gibt es immer irgendwo einen Freiwilligen aus einem Verein für freiwillige Sterbehilfe, der bereit ist, ihnen zu ihrer letzten Pille zu verhelfen.

Die Propagierung von Sterbehilfe ist »Euthanasie durch
die Hintertür«.

Die »Neue Zürcher Zeitung« berichtete vor mehreren Wochen, dass Ärzte in Zürich Corona-Patienten davon abraten, sich im Krankenhaus aufnehmen zu lassen. Es sei besser, im Pflegeheim zu bleiben, auch wenn der Krankheitsverlauf schwerwiegend ist und tödlich endet.

Denn das Sterben zu Hause sei schnell und schmerzlos: Am Ende stürben die meisten Patienten in einer Zeitspanne zwischen wenigen Stunden und zwei Tagen. Sie bekämen in der Regel Sauerstoff und Morphin verabreicht. Mit Verlaub, ich halte dies für keinen guten Rat. Hier wird lediglich eine Art kollektive Sterbehilfe für einen Teil der alternden Bevölkerung gefördert. Ich kann dies nicht gutheißen.

STERBEHILFE Leider handelt es sich um ein breites gesellschaftliches Phänomen. Ich halte dies für eine Euthanasie durch die Hintertür, und es steht in völligem Widerspruch zu der im Judentum erwünschten und gebotenen Form von Menschlichkeit.

Ältere Menschen aus unserer Gemeinschaft haben mittlerweile einfach Angst, dass sie nicht mehr viel »Recht auf Leben« haben. Es stimmt in der Tat, dass ein Arzt im Rahmen der »Triage« bei nur einem Beatmungsgerät für zwei Patienten denjenigen auswählen muss, der die meisten und längsten Lebenschancen hat. Dies wird in der Regel der jüngere Patient sein.

Aber ich finde es in unserer Wohlstandsgesellschaft ganz und gar unmoralisch, wenn Politiker einen Trend unterstützen, älteren Menschen nur noch minimale Hilfe zukommen zu lassen.

PERSONAL Unsere europäische Gemeinschaft kann sich weit mehr lebensverlängernde Maschinen und zusätzliches Personal leisten, als derzeit verfügbar sind. In den schlimmsten Wochen der Corona-Pandemie kam Panik auf, weil man der Ansicht war, dass nicht genügend Kapazitäten vorhanden waren, um alle Patienten aufzunehmen.

Verschiedene Regierungen machten bereits – wenn auch auf subtile Weise – deutlich, wer ein volles Recht auf Leben hat und wer nicht. Dagegen müssen wir uns wehren. Denn eine Gesellschaft, die die Würde des Menschen achtet, kann es sich nicht erlauben, einen großen Teil ihrer Bevölkerung abzuschreiben oder gar für überflüssig zu erklären.

Der Autor ist Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Dajan beim Europäischen Beit Din und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

Berlin

Chabad braucht größere Synagoge

»Wir hoffen auch auf die Unterstützung des Senats«, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 15.01.2025

Ethik

Eigenständig handeln

Unsere Verstorbenen können ein Vorbild sein, an dem wir uns orientieren. Doch Entscheidungen müssen wir selbst treffen – und verantworten

von Rabbinerin Yael Deusel  10.01.2025

Talmudisches

Greise und Gelehrte

Was unsere Weisen über das Alter lehrten

von Yizhak Ahren  10.01.2025

Zauberwürfel

Knobeln am Ruhetag?

Der beliebte Rubikʼs Cube ist 50 Jahre alt geworden – und hat sogar rabbinische Debatten ausgelöst

von Rabbiner Dovid Gernetz  09.01.2025

Geschichte

Das Mysterium des 9. Tewet

Im Monat nach Chanukka gab es ursprünglich mehr als nur einen Trauertag. Seine Herkunft ist bis heute ungeklärt

von Rabbiner Avraham Radbil  09.01.2025

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025

Talmudisches

Reich sein

Was unsere Weisen über Geld, Egoismus und Verantwortung lehren

von Diana Kaplan  03.01.2025

Kabbala

Der Meister der Leiter

Wie Rabbiner Jehuda Aschlag die Stufen der jüdischen Mystik erklomm

von Vyacheslav Dobrovych  03.01.2025

Tradition

Jesus und die Beschneidung am achten Tag

Am 1. Januar wurde Jesus beschnitten – mit diesem Tag beginnt bis heute der »bürgerliche« Kalender

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  01.01.2025 Aktualisiert