Obwohl Jom Kippur noch nicht einmal begonnen hat, möchte ich für diesen Beitrag das Ende dieses so wichtigen Feiertages betrachten: den Ne’ila-G-ttesdienst. Er ist der fünfte und somit auch letzte G-ttesdienst an Jom Kippur und besteht aus mehreren Teilen: unter anderem der Amida, dem Schema, dem Awinu Malkenu und letztendlich dem Blasen des Schofars.
Dieses Jahr war unbeschreiblich schwer – und in Anbetracht dessen scheint es nahezu unmöglich, Vergebung, Hoffnung und Zuversicht in unsere Herzen einziehen zu lassen. Um dies zu erleichtern, möchte ich eine Stelle aus dem abschließenden Gebet an Jom Kippur beschreiben, die mir ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen schenkt.
Das Bittgebet Awinu Malkenu wurde nach talmudischen Quellen bereits von Rabbi Akiva zur Erbittung von Regen während einer Dürre gesprochen und erbrachte ihm so das gewünschte Ergebnis. Die Sängerin Barbra Streisand verhalf ihm 1997 darüber hinaus zu beträchtlicher Popularität auch über die Grenzen des Judentums hinaus.
Zwei Rollen
Doch was macht dieses Gebet so besonders? Awinu Malkenu heißt übersetzt »unser Vater, unser König«. Wir richten unsere Bitten zwar an Haschem, den Ewigen, jedoch werden hier zwei Rollen deutlich: die des Vaters und die des Königs. Viele von uns können sich sicherlich noch an einzelne Bitten an ihre Väter erinnern.
Ein paar persönliche Bitten aus den letzten Wochen beziehen sich bei mir beispielsweise auf die Unterstützung beim bevorstehenden Umzug, die Behebung technischer Probleme meines Autos oder das Einspringen als Taxiservice, wenn man den letzten Bus des Abends dann doch verpasst hat.
Mir ist durchaus bewusst, dass nicht jeder das Glück hat, einen großartigen Vater hier bei sich auf Erden zu haben. Die Gründe können vielfältig sein und in Zeiten von Krieg, Terror und Gewalt in mehreren Ländern auf dieser Welt ist dies ein echtes Privileg. Doch einen Vater haben wir alle gemeinsam. Einen Vater, der uns auf ewig bleibt.
Vergebung von Verfehlungen
Er ist nicht nur Vater, sondern auch König. Ein König so mächtig, dass es unsere Vorstellungskraft übersteigt. So enorm, dass wir nicht in der Lage sind, uns ein Bild zu machen. So unvergleichlich, dass wir uns in allen Lebenslagen geborgen fühlen können.
Im Awinu Malkenu bitten wir nicht um die Pannenhilfe bei einem platten Reifen oder den Taxiservice nach dem verpassten Bus. Wir bitten um die Heilung unseres Volkes, die Einschreibung in das Buch des Gedenkens oder die Vergebung unserer Verfehlungen.
Wir haben einen König, den wir als Vater bitten können. Und gleichzeitig haben wir einen Vater, der die Macht eines Königs hat. Ein König, der diese Welt in ihrer ganzen Pracht erschaffen hat und der das Volk Israels aus Ägypten führte.
Wiedersehen in Jerusalem
Wenn wir also in wenigen Tagen in der Synagoge stehen und gemeinsam das Awinu Malkenu sprechen, lasst uns vertrauen auf unseren Vater, unseren König – Haschem den Ewigen. Mögen all unsere Bitten erhört werden und mögen wir im nächsten Jahr im Buch des Lebens stehen und nicht vergessen, uns alle in Jerusalem wiederzusehen.
L’Shana Haba’ah B’Yerushalayim - לְשָׁנָה הַבָּאָה בִּירוּשָלָיִם
Chiara Lipp ist studierte Grundschullehrerin und aktuell Doktorandin und Lehrbeauftragte in den Bereichen Mehrsprachigkeit und DaZ. Sie engagiert sich bei Meet a Jew, dem EDA Magazin und im Religionsreferat der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Chiara ist Mitglied der Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und arbeitet als Religionslehrerin in der Gemeinde Beth Shalom München.
Dieser Text ist zuerst bei »Eda« erschienen, dem Magazin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Mehr Informationen finden Sie auf der Website oder dem Instagram-Kanal von »Eda«.