Es gleicht der Quadratur des Kreises, wenn jemand Glauben und Wissen(schaft) zusammenführen will. Ein Wunder vollbrächte, wer es vermöchte. Allein dem »Lieben Gott«, wie auch immer genannt, oder den Göttern, welcher Herkunft auch immer, wird von Gläubigen Wunder-Wirkkraft zugeschrieben.
Genau das bestreiten die Wissenden, die freilich über das göttliche Sein oder Nichtsein so viel wissen wie jedermann: nämlich nichts. Wer Rabbiner Tovia Ben-Chorin erlebt hat oder in dem hier angezeigten Buch sozusagen erliest, kann sich jenem Wunder aus Wissen plus Glauben nicht entziehen.
Schon in seinem deutsch-jüdischen Jerusalemer Elternhaus lernte Tovia Ben-Chorin das Judentum lieben.
Rabbi Tovia, 1936 in Jerusalem geboren, Sohn des bedeutenden deutsch-jüdischen Religionsgelehrten Schalom Ben-Chorin, wuchs im väterlich-jeckischen Rehavia-Klein-Milieu um Martin Buber auf, wo der »große Weltgeist« wehte, der ihn prägte. Nach dem Studium am Hebrew Union College waren Ramat Gan, Jerusalem, Manchester, Zürich, Berlin und nun St. Gallen seine weiteren Stationen.
Vorbild Schon in seinem deutsch-jüdischen Jerusalemer Elternhaus lernte Tovia Ben-Chorin das Judentum lieben – das aufgeklärte, reformierte Judentum nach dem Vorbild seines Vaters Schalom Ben-Chorin und anderer »Lichtgestalten«. Tovia Ben-Chorin hat den Dialog der Kulturen und Religionen mit der Muttermilch eingesogen.
»Was du ererbt von deinen« Eltern, »erwirb es, um es zu besitzen«. Dieses genderpolitisch von mir korrigierte Goethewort hat sich Rabbi Tovia zu eigen gemacht. Er besitzt das Ererbte, weil er es erworben hat. Anders als die Eltern war er ein echter »Zabar«, ein in Israel geborener Jude. Doch anders als die Kaktusfrucht ist Tovia nicht stachelig, sondern sanft – und durch seine Sanftheit stark. Rabbi Tovia isst nur koschere Speisen, doch auch ohne koscheres Essen wäre er in jeder Hinsicht koscher. Der Geist des Gesetzes, nicht der Buchstabe entscheidet. Auch das gehört zu Rabbi Tovias Theologie und Philosophie.
Der Geist des Gesetzes, nicht der Buchstabe entscheidet. Auch das gehört zu Rabbi Tovias Theologie.
»Jüdischer Kosmopolitismus« war und ist Judenfeinden ein Horror. Als »typischer Jude« ist Rav Tovia Weltbürger. Weltbürger – und Israeli, der auch lange Soldat war. Er lebte in den USA, England und der Schweiz. Er lebte in Deutschland und ging, zum Kummer deutsch-liberaler Juden, wieder in die Schweiz.
Lehrer Rav Tovia ist ein vorzüglicher Redner, Prediger, Lehrer – und, wie sein »Schulchan Orech« gesammelter Gemeindebriefe aus seiner Zürcher Zeit beweist – ein (be)merkenswerter Autor.
Weshalb nicht »Schulchan Aruch«? Weil der Tisch immer neu gedeckt werden muss, weil Tradition und Innovation in einem kontinuierlichen Spannungsverhältnis zueinanderstehen. Wer und was sich nicht weiterentwickelt, auch die Halacha, versteinert und verkümmert zu seelenlosem Automatismus. Umgekehrt gilt: Wer der Innovation ohne Tradition frönt, schwebt im luftleeren Raum.
Um folgende Großthemen kreisen seine jeweils ebenso kurzen wie gehaltvollen und lehrreichen Abhandlungen: Ethik, Tradition, progressive beziehungsweise Reform-Halacha, Israel, Geschichte, Kultur und Gesellschaft, Feiertage und Gedenktage, Philosophie der Religion.
Rav Tovia, wahrlich »a Mentsch«, ist seit jeher ein Mann des gesprochenen, bewegenden, Wissens- und Herzensgüte vermittelnden sowie anregenden Wortes. Seine hier (in altjüdischer und paulinischer Tradition) gesammelten Gemeindebriefe aus seiner Züricher Zeit sind ein wundervolles Geschenk an diejenigen, die über den Glauben der Juden mehr wissen wollen, ohne indoktriniert zu werden.
Breuers Texte sind eine wunderbare Gedankenwelt, die ebenfalls Glauben und Wissen zusammenzuführen scheint.
Der neoorthodoxen jüdischen Welt gehörte Rabbiner Isaac Breuer an. Breuers Texte sind unter anderen Vorzeichen als beim Reformjuden Ben-Chorin eine wunderbare Gedankenwelt, die ebenfalls Glauben und Wissen zusammenzuführen scheint. Der Tübinger Judaist Matthias Morgenstern hat drei höchst bereichernde Breuer-Bände herausgegeben. Breuer und Ben-Chorin: ganz anders und gleichermaßen empfehlenswert.
Empfehlenswert ist auch Boris Fernbachers Studie über 3000 Jahre jüdische Musikgeschichte. Nicht erst das Reformjudentum, die jüdischen und natürlich auch die christlichen Hippies haben weltliche und geistliche Musik miteinander verbunden. Schon im Ersten Jerusalemer Tempel wurde musiziert. Auch danach. Immer und überall. Alle drei Veröffentlichungen erinnern daran, dass Judentum eben mehr ist als die leider auch notwendige Dauerbeschäftigung mit dem Antisemitismus.
Tovia Ben-Chorin: »Orech Haschulchan: Der den Tisch deckt«. WDL, Hamburg 2017
Werkausgabe Isaac Breuer, hrsg. von Matthias Morgenstern. Drei Bände. LIT, Berlin 2016 ff.
Boris Fernbacher: »Vom Jerusalemer Tempel nach New York. 3000 Jahre jüdische Musikgeschichte«. BoD Books, Norderstedt 2018