Der Talmud überliefert die eigentümliche Diskussion über Rabbi Jochanans Meinung, wonach man »einen Kranken ausschließlich von jüdischen Ärzten behandeln lassen darf, solange unklar ist, ob er überleben oder sterben wird. Wenn sicher ist, dass er sterben muss, darf man ihn auch von nichtjüdischen Ärzten behandeln lassen« (Awoda Sara 27b).
Die Begründung hierfür ist nicht, dass jüdische Ärzte qualifizierter seien als nichtjüdische, sondern dass jüdische Ärzte die Halacha befolgen. Sie wissen, das Leben stellt im Judentum einen geradezu absoluten Wert dar, und sie als Ärzte müssen alles tun, um das Leben zu erhalten.
verbote Die Halacha relativiert sich schließlich selbst zugunsten des Lebens, und alle Verbote (außer den Verboten von Mord, Götzendienst und Suizid) dürfen oder müssen übertreten werden, wenn ihre starre Befolgung das Leben gefährdet.
Auch ein Leben von kurzer Dauer und mit Einschränkungen gilt Juden als heiliges Geschenk des Schöpfers. Daher wird in der zitierten talmudischen Diskussion folgerichtig eingewandt: »Selbst wenn er sicher sterben muss, wird er doch noch eine beschränkte Zeit leben!?«
Die überraschende Antwort auf die Zweifel lautet: »Das Leben einer beschränkten Zeit (Chaje Scha’a) wird hier nicht berücksichtigt.«
Steht also medizinisch zweifelsfrei fest, dass ein Kranker sterben muss und es keine Rettung gibt, darf er auch von einem Arzt behandelt werden, der das Leben nicht als Geschenk des Schöpfers versteht.
Lebenszeit Der nichtjüdische Arzt wird nicht versuchen, um jeden Preis Leben retten zu wollen. Für ihn mag die Lebensqualität seiner Patienten wichtiger sein als ihre bloße Lebenszeit. Er könnte sich sogar ganz bewusst gegen lebensverlängernde Maßnahmen entscheiden und unter Umständen den Eintritt des Todes absichtlich beschleunigen.
Auch ein Leben von kurzer Dauer und mit Einschränkungen gilt Juden als heiliges Geschenk des Schöpfers.
Die Ergebnisse einer Umfrage unter Ärzten in Deutschland, die 2015 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlicht wurden, bestätigen, dass genau dies im medizinischen Alltag vorkommt. Von 700 befragten Ärzten gab die Hälfte an, beim letzten von ihnen begleiteten Sterbefall bewusst bestimmte medizinische Maßnahmen abgebrochen oder gar nicht erst begonnen zu haben, damit Kranke schneller den erlösenden Tod finden können.
Schmerzlinderung Zehn Prozent gaben sogar an, Medikamente zur Schmerzlinderung absichtlich so hoch dosiert zu haben, dass es den Sterbeprozess beschleunigt. Juristisch und halachisch ist dies problematisch, handelt es sich doch um eine versteckte Form von Sterbehilfe, also um eine Tötung. Aber handeln Ärzte – ganz egal, ob jüdische oder nichtjüdische – falsch, wenn sie sich in derartigen Fällen mehr an der Lebensqualität der Kranken als an der Pflicht, Leben zu retten, orientieren?
Wenn die Medizin einem unheilbar Kranken nur noch kurze Lebensverlängerung (Chaje Scha’a) ermöglichen kann und er sich den erlösenden Tod wünscht, muss er mit großer Verzweiflung bei seiner Familie rechnen und darauf gefasst sein, von allen Seiten zur religiösen Verpflichtung zu leben ermahnt zu werden.
Man soll sich auf den Kranken einlassen und zu seinem Wohl entscheiden.
Der Begriff des »Lebens einer beschränkten Zeit« (Chaje Scha’a) hilft in der halachischen Bewertung eines solchen Falles. Die Tosafisten schlussfolgern, dass man die scheinbar widersprüchlichen Anweisungen zur Behandlung einer unumkehrbar und in kurzer Zeit tödlich endenden Erkrankung so verstehen soll, dass die Halacha mit einer barmherzigen Flexibilität ausgelegt werden darf.
Das heißt, man soll sich auf den Kranken einlassen und zu seinem Wohl entscheiden. Im Einzelfall wird man akzeptieren müssen, dass sein Wohl eben nicht das Weiterleben, sondern der Tod sein mag.
Ein unheilbar Kranker darf einen aussichtlosen Kampf beenden und medizinische Maßnahmen, vielleicht sogar das Essen und Trinken ablehnen. Es gibt eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben.