In Krisen- und Umbruchzeiten blüht jüdische Religionsphilosophie auf. Viele Werke haben die Aufgabe, Grundsätzliches zu klären und Einwände zu diskutieren, die von Vertretern anderer Auffassungen gegen die jüdische Religion vorgebracht worden sind.
Isaac Breuer (1883–1946) war ein deutsch-jüdischer Philosoph, der in zahlreichen Schriften immer wieder die Probleme seiner Zeit analysiert hat. Eine kritische Werkausgabe, die Matthias Morgenstern ediert, bringt Breuers Veröffentlichungen zwei Generationen nach seinem Tod erneut ins Gespräch.
Reaktionen Als Band 4 der Werkausgabe ist Breuers religionsphilosophischer Roman Der Neue Kusari aus dem Jahr 1934 jetzt in einer zweiten Auflage erschienen. In der neuen Edition wurden Druckfehler der ersten Auflage korrigiert. Wesentlich wichtiger als diese Korrekturen aber sind Anmerkungen der Herausgeber, die Breuers Text fast auf jeder Seite kommentieren. Gerold Necker bespricht in einem Nachwort Reaktionen auf Breuers Opus magnum aus dem Jahr 1934, besonders ausführlich die feindselige Rezension des Jerusalemer Kabbala-Forschers Gershom Scholem.
Der merkwürdige Titel Der Neue Kusari bedarf einer Erklärung. Der Autor nimmt Bezug auf den Kusari des spanisch-jüdischen Dichters und Denkers Jehuda Halevi (1075–1141). Vom mittelalterlichen Kusari hat Breuer Form und Inhalt des Buches übernommen: Dialoge kreisen um Glaubensfragen, Vertreter verschiedener Auffassungen kommen zu Wort, und in diesen Gesprächen wird ein bestimmtes Konzept des Judentums sichtbar.
Sowohl bei Halevi als auch bei Breuer wird die Bedeutung des Judeseins erörtert. Natürlich musste sich Breuer im 20. Jahrhundert mit ganz anderen Fragen auseinandersetzen als der spanische Religionsphilosoph, der 800 Jahre vor ihm lebte. Breuer hat seinem Kusari den Untertitel Ein Weg zum Judentum gegeben.
Der Autor lässt einen jungen Mann, Alfred Roden, der aus einer assimilierten deutsch-jüdischen Familie stammt, seinen Weg zum gesetzestreuen Judentum finden. Erst lernt Roden den Standpunkt des liberalen Judentums kennen, dann spricht er mit Vertretern des säkularen und des religiösen Zionismus. Die Schwächen sowohl der liberalen als auch der zionistischen Ideologien erkennend schließt sich Roden am Ende der Orthodoxie an. Was brachte den Suchenden auf diesen Weg? Es waren geschichtsphilosophische Überlegungen und die ihn überwältigende Lektüre von Kapitel 26 aus dem 3. Buch Mose, die Roden von der Richtigkeit und Wichtigkeit der Tora-Lehren überzeugt haben.
Enkel Rodens Wegweiser wurde durch seine Schriften der berühmte neoorthodoxe Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888). Isaac Breuer war ein Enkel von Rabbiner Hirsch und hat sich lebenslang mit den Lehren des Großvaters intensiv beschäftigt.
Der Autor lässt Roden Rabbiner Hirschs Weltanschauung erläutern, so zum Beispiel die oft missverstandene Devise Tora im Derech Erez. Diesen Spruch wandelt Roden sogar ab und redet von Tora im Derech Erez Israel (abgekürzt: »Thedaismus«).
Die Position seines Großvaters hat Breuer weiterentwickelt, auch wenn er dies nicht ausdrücklich sagt. Wer nicht einige Semester Philosophie studiert hat, wird die erkenntnistheoretischen Passagen am liebsten überspringen wollen. Die Besprechung der Erkenntnistheorie von Kant konnte der Autor aber nicht weglassen, als er vorhatte, Antworten auf moderne Einwände gegen bestimmte Lehren der Tora zu entwickeln.
An einer Stelle der philosophischen Reflexionen findet man die bemerkenswerte These: »Das Judentum kann nicht widerlegt werden. Es gibt keinen Einwand, den es zu scheuen hätte. Aber es kann – vergessen werden. Lernen ist alles.« Der Verfasser versucht herauszuarbeiten, was man beim jüdischen »Lernen« lernt und was das Judesein bedeutet.
Da Der Neue Kusari etliche Begriffe und Grundsätze des Judentums sorgfältig erläutert, ist Breuers Werk nicht nur für Historiker der jüdischen Religionsphilosophie interessant. Aus diesem Grund hat Simcha Henshke das deutsche Buch vor einigen Jahren ins Hebräische übersetzt.
Yizhak Ahren
Isaac Breuer: »Der Neue Kusari. Ein Weg zum Judentum.« Werkausgabe Band 4. Herausgegeben und kommentiert von Matthias Morgenstern und Gerold Necker in Verbindung mit Hans Martin Dober. LIT, Münster 2020, 486 S., 69,90 €