Medizin

Von der Wahrheit am Krankenbett

Ein Schatten auf der Lunge? Es gibt Menschen, die nicht wissen wollen, wie viel Zeit ihnen noch bleibt. Foto: Thinkstock

Die Zeiten, in denen paternalistische Ärzte ganz allein bestimmten, was Wahrheit und Wahrhaftigkeit am Patientenbett bedeutet, und sich Familienangehörige Schwerkranker und Sterbender hinter nebulösen Aussagen oder dem Schweigen solcher Ärzte versteckten, sind zum Glück längst vorbei.

Spätestens seit den 80er-Jahren ist in der gesamten westlichen Welt die Kommunikation mit Patienten, parallel zum zunehmenden medizinischen Fortschritt und der Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten, immer offener und die Aufklärung über Diagnosen und Prognosen – auch bei der »Schockdiagnose« Krebs – immer direkter geworden.

Chemotherapie Das hat verschiedene Gründe, und es gibt gute Argumente dafür, dass dies die richtige Entwicklung ist. Selbstverständlich muss der Arzt heute einem Kranken, dem er zu einer Chemotherapie oder einer Strahlentherapie rät, auch sagen, dass damit eine Krebserkrankung behandelt wird. Juristisch wäre eine Therapieeinleitung anders nicht denkbar.

Auch müssen diagnostische Untersuchungen, die mit Risiken einhergehen, dem Patienten begründet und dahingehend mit ihm besprochen werden, dass der Verdacht auf eine ernst zu nehmende Erkrankung vorliegt und die Risiken daher gerechtfertigt sind. Natürlich wird der Patient seinen Arzt nach den Ergebnissen der Untersuchungen, den sich daraus ergebenden Konsequenzen oder dem Ansprechen einer eingeleiteten Behandlung fragen und darauf eine ehrliche Antwort erwarten. Wie sonst sollte er dem Arzt auch vertrauen können?

Prognose Indes gibt es aber auch ernst zu nehmende Argumente, die die Frage aufwerfen, ob das Eröffnen der »Wahrheit« in jedem Fall das Beste für den Kranken ist. Erfahrene Ärzte wissen, dass sie bewusst, unbewusst oder intuitiv, ganz unterschiedlich mit verschiedenen Patienten sprechen, auch wenn Krankheit und Prognose dieser Patienten vergleichbar ungünstig sind.

Sie stellen sich weniger die Frage, ob sie die Wahrheit sagen oder verheimlichen sollten. Sie fragen vielmehr, wie sie die Wahrheit sagen, und manchmal auch, wie viel von dem, wovon sie glauben, es sei die Wahrheit, sie sagen sollen. Jeder, der beruflich, ehrenamtlich oder als Angehöriger bereits Gespräche mit Schwerstkranken über das Lebensende geführt hat, weiß, dass diese Gespräche umso schwieriger werden, je bedrohlicher das Krankheitsstadium des Betroffenen ist, und je kürzer die bis zum erwarteten Tod verbleibende Zeit erscheint.

Oder anders gesagt: Wenn das Thema Tod nicht aktuell ansteht und wir sehr theoretisch bleiben, können wir in der Regel recht offen über den eigenen Tod, den Tod unseres Gegenübers und Entscheidungen am Lebensende sprechen. Je konkreter es wird, desto schwieriger wird es – wir wollen uns schonen.

Konflikt Der Konflikt, der aus der Verpflichtung entsteht, den Kranken einerseits so weit wie möglich zu schonen, ihn aber gleichzeitig über seine Krankheit, die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Verfahren, aber auch über seine existenzielle Situation aufzuklären, ist in der jüdischen Tradition kein neues Thema. Den Spagat, den es zu vollziehen gilt, wenn man einem unheilbar Kranken die Begrenztheit der ihm noch verbleibenden Zeit vermitteln und ergründen will, was für ihn in dieser Phase des Lebens das Richtige ist, ohne dadurch aber seine Hoffnung zu zerstören, diskutieren unsere Gelehrten bereits seit Jahrhunderten.

Die in der jüdischen Diskussion am häufigsten herangezogenen Belegstellen der Tora sind hierzu zweifellos im 2. Buch Mose 23,7: »Von einem falschen Ausspruch halte dich fern ...« und im 3. Buch Mose 19,11 zu finden: »Ihr sollt nicht (…) lügen einer dem andern.«

Shimon Glick, einer der wichtigen orthodoxen Vertreter der jüdischen Medizinethik – seine Ausbildung erfuhr er in einer Jeschiwa in Brooklyn und an der medizinischen Fakultät der Yale University –, betont mit Bezug auf Mischna und Talmud, dass Wahrheit an sich kein absoluter und über allem stehender Wert ist. Das Erreichen von Frieden und das Mildern des Leidens eines Kranken können Werte sein, die die Halacha über den Wert der Wahrheit stellt – und damit das Prinzip des »Mipnej Darchej Schalom« meint.

Chasahel Die Hebräische Bibel erzählt von Chasahel, der von dem erkrankten König Ben Hadad zu dem Propheten Elischa geschickt wird, um zu erfragen, ob er von seiner schweren Krankheit genesen werde. Elischa antwortet Chasahel: »Geh, sprich zu ihm: Du wirst genesen. Aber der Ewige hat mich sehen lassen, dass er sterben wird« (Könige 2, 8, 7–10).

Während hier Elischa Chasahel beauftragt, dem König die Unwahrheit über seine Krankheitssituation zu sagen, bekommt ein anderer König, Chiskijah, von dem Propheten Jeschajahu unverblümt die Wahrheit zu hören: »So spricht der Ewige: Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht leben« (Könige 2, 20,1). Chiskijah, der zwar demoralisiert ist, aber die Hoffnung nicht aufgibt, beginnt zu beten. Daraufhin wird Jeschajahu vom Ewigen aufgefordert, zu Chiskijah zurückzukehren und ihm mitzuteilen, dass der Ewige ihm weitere 15 Lebensjahre schenken wird (Könige 2, 20, 5–6).

Aufklärung Die moderne jüdische Medizinethik schließt aus der Chiskijah-Geschichte, dass es im Judentum durchaus erlaubt ist, einem unheilbar Kranken mit sehr begrenzter Lebenserwartung die Wahrheit über seine Situation zu sagen. Die Aufklärung soll aber, wenn sie richtig gemacht wird, weder über die Informationsbedürfnisse des Kranken hinausgehen noch hinter ihnen zurückbleiben. Sie darf auch nicht vergessen, auf die emotionale Situation des Kranken einzugehen, damit sie ihm nicht schadet.

Wenn es heißt, ein Krankengespräch sei nur dann gut, wenn es Hoffnung und Zuversicht gibt, schließt das nicht aus, die Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil: Es ist hinreichend bekannt, dass gut aufgeklärte Patienten besser mit ihrer Krankheitssituation zurechtkommen und bessere soziale Unterstützung erfahren als schlecht aufgeklärte. Voraussetzung ist natürlich ein fortgesetzter Dialog mit der Möglichkeit regelmäßiger Rückfragen und Feedbacks.

Hoffnung Die verbreitete Sorge, dass durch Mitteilen der Wahrheit alle Hoffnung zerstört wird, kann man zerstreuen. Eine falsche Hoffnung sollte nicht künstlich aufrecht erhalten oder aufgebaut werden, aber oft gibt es begründete Hoffnung – zum Beispiel auf ein Lebensende in Würde, frei von Qual und Schmerzen, Hoffnung auf einen guten Tod, die vermittelt und gefestigt werden soll.

Es kann einem Kranken auch guttun, die Geschichte von Chiskijah zu hören. Keiner sollte es ihm nehmen, auf ein Wunder zu hoffen. Selbst wenn der Kranke rational aufgeklärt wurde und er diese Aufklärung auch rational aufgenommen und verstanden hat, ist er weder psychotisch, noch darf man unterstellen, dass er unprofessionell aufgeklärt wurde, wenn er weiterhin auf ein Wunder hofft, an das außer ihm niemand glauben kann.

Frist Aus der Geschichte von Elischa und Chasahel ziehen die jüdischen Medizinethiker den Schluss, dass es Fälle geben kann, in denen es aus jüdischer Sicht legitim ist, einem Kranken nicht in aller Ausführlichkeit die Bedrohlichkeit seiner Erkrankung und die mutmaßlich kurze Frist bis zum Tod zu eröffnen. Das könnte beispielsweise dann der Fall sein, wenn Ärzte oder Angehörige zu der Überzeugung kommen, dass der Kranke durch diese Informationen mehr Schaden nimmt, als sie förderlich für ihn sein könnten.

Es gibt auch Patienten – und dazu haben sie ein Recht –, die deutlich sagen, dass sie keine allzu präzisen Informationen über Diagnose und Prognose haben wollen. Die Kommunikation mit diesen Menschen muss aber der Tatsache Rechnung tragen, dass eine existenzielle Grenzsituation vorliegt, und es muss mit Erfahrung und Behutsamkeit erfragt werden, wie weit die Betroffenen informiert werden wollen.

Manchen Menschen hilft ein gewisser Grad an Verdrängung dabei, bis zuletzt zu »funktionieren«, und bewahrt sie davor, in Depressionen zu verfallen oder an Sterbehilfe zu denken. Sie sollte man nicht mit aller Gewalt über ihre »wirkliche Lage« aufklären, die sie ja oft nur zu gut spüren, und man sollte Kranke an ihrem Lebensende nicht mit besserwissendem Aufklären darüber, »wie es wirklich steht«, mürbe machen. Nicht selten begegnen mir Patienten, die von sehr ambitionierten »Aufklärern« berichten, die sie vor zwei oder mehr Jahren darüber informiert haben, dass sie höchstens noch sechs Monate zu leben hätten.

Empathie Es ist nicht immer einfach, die Prognose zeitlich zu fassen. Und es ist eine Frage von Wortwahl und Empathie, wie man als Arzt seinem Patienten vermittelt, dass man aufgrund der ärztlichen Einschätzung befürchten muss, dass dieser Patient innerhalb der nächsten Monate sterben könnte.

Zur Wahrheit am Krankenbett und der damit verbundenen und nachfolgenden psychosozialen Begleitung, um Ängste und psychische Not der Kranken zu lindern, gehört ebenso wie zur Behandlung der körperlichen Symptome eine hohe Expertise derer, die sich um die Kranken kümmern – und das sind nicht nur Ärzte. Auch Ehrenamtliche in Bikkur-Cholim-Gruppen, Pflegekräfte, Sozialarbeiter sowie Angehörige können dem betroffenen Kranken die Wahrheit angemessen vermitteln und damit psychische und physische Schmerzen, Leid und Not lindern und Lebensqualität erhalten.

Der Autor ist leitender Oberarzt für Palliativmedizin am Klinikum Bielefeld und stellvertretender Vorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde »Beit Tikwa«.

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